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Notizen aus der Redaktion

Aber bitte mit Blutwurst

Stavarič, Michael (2013): Königreich der Schatten. C.H. Beck, München. 256 S., 19, 95 Euro

Ob Michael Stavarič in einem zweiten Leben als Jongleur oder Seiltänzer arbeitet? In seiner offiziellen Biografie deutet nichts darauf hin. Doch anders ist der Balanceakt, der dem tschechisch-österreichischen Autor mit seinem neuen Roman gelungen ist, fast nicht zu erklären. Es geht um zwei Familiengeschichten und zwei Lebenswege, der eine beginnt in New York, der andere in Wien, um zwei junge Menschen und um eine dunkle Vergangenheit. Und um eine Leidenschaft und gemeinsame Berufung: Fleisch. „Königreich der Schatten“ ist ein in jeder Hinsicht bemerkenswertes und außergewöhnliches Buch über das Handwerk des Tötens und die ‚Enkelgeneration‘. Im Fokus stehen Rosi Schmieg und Danny Loket, sie hoffnungsvolle Metzgerei-Novizin in Leipzig, er fantasievoller Träumer und Weltenbummler, der Amerika den Rücken kehrt und sich auf Spurensuche seines Großvaters nach Europa begibt. Der war nämlich nicht nur Fleischermeister in der Tschechoslowakei, sondern hat auch im zweiten Weltkrieg gegen die Nazis gekämpft – ebenso wie Rosis Großvater, nur dass der in Österreich geschlachtet und auf der anderen Seite der Front gestanden hat. Und während Rosi schon eifrig die Messer wetzt und ihrer Fleischerei-Eröffnung entgegenfiebert, nähert sich Danny unaufhaltsamen seinem Schicksal, das auf einer brandneuen Antirutsch-Schlachtmatte entschieden wird. Krieg, Tod, Erinnerung, Schuld: Stavarič packt die die ganz großen Themen an und haut sie uns auf eine Weise um die Ohren, die erschütternd ist: erschütternd unkorrekt, unsentimental und komisch, aber auch erschütternd sensibel und zauberhaft. Chapeau. (S. B.)

Kochen in Frankfurt - kritisch lesen in Nürnberg

Linke Büchermessen können, wenn sie denn von vernünftigen Menschen organisiert sind, ein wichtiger antikapitalistischer und antiimperialistischer Gegenentwurf zu den großen Massenveranstaltungen wie etwa der Frankfurter Buchmesse sein. Diese findet mal wieder Anfang Oktober statt und hat sich in diesem Jahr Indonesien als Gastland eingeladen − unter anderem mit dem Motto „Spice it up!“. Das Programm dazu entpuppt sich allerdings wie zu erwarten eher als Kochshow denn als eine Chance für regierungskritische oder unabhängige indonesische Schriststeller_innen. Wie Buchmessen auch anders aussehen können, wird auch in diesem Jahr wieder die Linke Literaturmesse in Nürnberg zeigen: Vom 30.10. bis 01.11.2015 findet sie bereits zum 20. Mal statt - und wir gratulieren dazu ganz herzlich. Ein breites Spektrum kleiner, unabhängiger Verlage, politische Vortrags- und Kulturveranstaltungen und natürlich jede Menge Bücher erwarten die Gäste im Künstlerhaus in Nürnberg; mit Themen, die von erwartungsvollen Blicken zurück in die Geschichte, aktuellen politischen Zerwürfnissen und Fragestellungen und fantastischen Utopien in der Zukunft berichten und jedes literaturbegeisterte linke Herz höher schlagen lassen. Michi aus dem Organisationsteam in Nürnberg erzählt uns, wie die Idee entstand: „Vor 20 Jahren war es einer Gruppe von Autonomen und Marxisten in Nürnberg ein Anliegen, linke Literatur und deren Positionen auch dem fränkischen Publikum näherzubringen." Er berichtet: „Dass die Buchmesse wichtig ist, zeigt sich in dem Besucherandrang, der seit 20 Jahren anhält. Es ist vor allem die Möglichkeit mit Autorinnen und Autoren sowie Verlegerinnen und Verlegern ins Gespräch zu kommen und die Breite des vertretenen Spektrums, weshalb einmal im Jahr Tausende Besucherinnen und Besucher die etwa 50 Veranstaltungen füllen.“ Besonders ist, dass die Organisator_innen keine Schwerpunkte festlegen: „Diese entstehen immer durch die Neuerscheinungen der Verlage, beziehungsweise durch die Autorinnen und Autoren. Nur die Eröffnungsveranstaltung organisieren wir mit den Referierenden selbst.“ Die Antifa-Debatte etwa findet dort eine weitere Plattform: „Wir konnten unter anderem Susann Witt-Stahl zum Themenkomplex Antifaschismus gewinnen, was uns sehr freut." Auch der Rechtsruck in Deutschland, die brennenden Wohnheime für Geflüchtete sowie zunehmende Demonstrationen von Faschisten, werden Thema von Vorträgen und Buchvorstellungen sein. Michis besonderes Highlight? „Ich freue mich auch ganz besonders über die Vorstellung der Griechenlandbroschüre einer Delegation, die während des Wahlkampfs vor Ort war.“ Eine herzliche Einladung geht also an alle kritisch-lesen.de-Freund_innen und Genoss_innen: „Die notwendige Veränderung dieser Welt und damit auch der Widerstand gegen die herrschenden Zustände ist eine Aufgabe für jung und alt, studierend oder arbeitend. Dementsprechend freuen wir uns auch, dass die Besucherinnen und Besucher aus allen Altersstufen, Schichten und Gegenden Deutschlands kommen.“ Weitere Infos findet ihr hier. (J. B.)

Nur ein Bahnhof?

Erich Preuß (2009): So funktioniert ein Bahnhof. Transpress Verlag, Stuttgart. 144 S., 9,95 Euro Und: Erich Preuß (2010): 100 legendäre Bahnhöfe. Transpress Verlag, Stuttgart. 144 S., 9,95 Euro

Hier treffen gestresste Geschäftsmänner auf geschäftige Straßenzeitungsverkäuferinnen, müde Arbeiterinnen auf über den Dingen schwebende Rucksackreisende, nervende Schulkinder auf nervöse Rentnerpärchen: der Bahnhof. Doch was ist überhaupt ein Bahnhof genau? Wer sich diese Frage schon einmal gestellt, aber noch keine hinreichende Antwort gefunden hat, sollte mal einen Blick in das Buch "So funktioniert ein Bahnhof" von Erich Preuß werfen, Autor von Werken wie "So funktionieren Eisenbahn-Signalsysteme", "So funktionieren Eisenbahn-Stellwerke" und "Schmalspurbahnen zwischen Spree und Neiße". Kenntnisreich führt er in die Geschichte der Bahnhöfe ein, erklärt die einzelnen Funktionen der Bereiche des Personen- und Güterbahnhofs, differenziert die verschiedenen Typen der Bahnhofsanlagen sowie − nicht zu vernachlässigen − der verschiedenen Fahrkartendruckmaschinen aus. Jede Seite des Buches wird illustriert durch wunderschöne, etwas aus der Zeit gefallene Bilder. Viele Bilder, bis zu vier pro Seite. Wer nun denkt, dieses Buch sei lediglich etwas für Eisenbahn-Freaks, irrt. Zwischen den Zeilen vermittelt das Buch ein Stück Sozial- und Kulturgeschichte der Bahnhöfe in Deutschland. Die Geschichte der alten Bahnstationen, die zu Zeiten der Industrialisierung in Deutschland entstanden sind, erzählen auch die Geschichte der Entwicklung der Klassengesellschaft, von Industrialisierung, Deindustrialisierung und Urbanisierung. Wer dieser Geschichte ein Stück näher kommen möchte und noch nicht genug von seitenlangen Ausführungen zu den Funktionseinheiten eines Bahnhofs hat, sollte unbedingt einen Blick in das Buch "100 legendäre Bahnhöfe" werfen. Beide Bücher erschienen beim Eisenbahn-Verlag Transpress. Preuß, in der DDR als Eisenbahner bei der Deutschen Reichsbahn tätig gewesen, später ausgewiesener Kenner der Bahn, Experte für Zugunglücke und immer auch Kritiker der Entwicklung des Unternehmens Deutsche Bahn, wird leider keine Gelegenheit mehr haben, detailverliebt mit einem Hauch Melancholie über die Welt der Züge, Weichen, Stellwerke und Bahnhöfe zu schreiben. Er starb im vergangenen Jahr in Berlin. (S. F.)

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Von
Redaktion
Veröffentlicht am
06. Oktober 2015
Erschienen in
Ausgabe 37, „Antifa anders machen!” vom 06. Oktober 2015