Rojava: Welche Art der Selbstbestimmung?
- Thema
- Essay von Alp Kayserilioğlu, re:volt magazine
Jenseits von Romantisierung und Dämonisierung: Was sind zentrale Elemente, Fragen und Probleme der Revolution in Rojava?
Lange Zeit haben viele Linke in Deutschland die PKK und die kurdische Befreiungsbewegung als nationalistisch und stalinistisch abgetan. 2014 änderte sich das schlagartig: Mit dem Angriff des IS auf Kobanê sowie des Widerstandes der YPG/J wurden die Kurd*innen zu Held*innen und auch innerhalb der deutschen Linken plötzlich „in“. Die anfängliche Euphorie hat sich zwar nicht aufgelöst, aber doch erheblich an Schwung verloren. Es haben sich einige Kurdistan-Solikomitees mit Öcalan-Lesekursen gebildet und es findet zumindest ein wenig internationalistische Arbeit statt. Ansonsten debattieren Linke viel darüber, ob sich die Kurd*innen an den US-Imperialismus verkauft haben oder nicht. Hinzu kommt eine romantische Schwärmerei, die eher der Projektion eigener Wünsche und Sehnsüchte entspricht als einem wirklichen Interesse an dem Revolutionsprozess. Über zentrale Elemente, Fragen und Probleme der Revolution wird kaum (mehr) debattiert. Was also sind die Schlüsselelemente der neuen Gesellschaftsformation in Rojava/Nordsyrien und welche Prozesse der Selbstorganisierung sind dabei zentral?
Nationale Selbstbestimmung
Kämpfen um nationale Selbstbestimmung steht die deutschsprachige Linke meist ablehnend gegenüber – genau dieser Kampf ist allerdings zentrales Kernelement und Motivationskraft in der Revolution von Rojava und auch in den Auseinandersetzungen in den anderen Teilen Kurdistans. Das historische Gebiet Kurdistans wurde nach dem Ersten Weltkrieg auf vier Nationalstaaten verteilt, was bis zum heutigen Tag zur Unterdrückung der Kurd*innen in den jeweiligen Nationalstaaten sowie zum Widerstand gegen diese Unterdrückung führte. In Syrien lief es nicht wesentlich anders ab. Spätestens seit den 1950ern nahm die Repressionswelle gegen die syrischen Kurd*innen Schritt für Schritt zu: Vertreibung, Zwangsarbeit, Entzug der Staatsbürgerschaft, Verhaftungen, Verbot kurdischer Traditionen, Namensänderung von Dörfern und Massenzwangsumsiedlungen gehörten zum Programm.
Im Gegensatz zu den anderen Teilen des historischen Kurdistans entwickelte sich der Befreiungskampf in Syrien aber anders: Als Druckmittel gegenüber der Türkei tolerierte der syrische Staat, dass die PKK ihre militärischen Hauptausbildungslager in Syrien unterhielt. Im Gegenzug verzichtete die PKK darauf, die kurdische Frage in Syrien zu thematisieren, um ein ungestörtes organisatorisches Hinterland zu haben. Letztlich wurde das informelle Bündnis zwischen Assad-Regime und PKK in Syrien gekündigt: Im Adana-Abkommen von 1998 akzeptierte Syrien die Bedingungen der Türkei, der PKK-Führer Abdullah Öcalan musste fliehen und geriet in Gefangenschaft. Aus der Isolationshaft heraus leitete er den Paradigmenwechsel der PKK von marxistisch-leninistischem nationalen Befreiungsprogramm zum demokratischen Konföderalismus ein. Wichtig für die Perspektive der nationalen Frage war, dass die PKK ab nun in allen Teilen Kurdistans genuine politische (Massen-)Strukturen aufbaute – auch in Syrien. Entsprechend repressiv reagierte der syrische Staat.
Als sich dann 2012 die syrischen Kräfte weitestgehend aus Nordsyrien zurückzogen, um die Kerngebiete zu verteidigen, übernahmen die sehr gut organisierten PKK-nahen Kräfte in Teilen der heutigen Kantone Afrîn, Kobanê und Cizîre die Macht. Sofort hoben sie alle antikurdischen Beschränkungen auf, legalisierten die kurdische Sprache, Organisationen und Feste und eröffneten Dutzende Schulen, Kulturinstitutionen und ähnliche Strukturen zur Förderung der kurdischen Sprache und Traditionen. Die nationale Befreiung war somit erfolgreich und strahlte bis in die Türkei aus, in der sie die Kurd*innen massenhaft motivierte.
Interessant jedoch sind die Konflikte, die sich alsbald im kurdischen Lager um den Charakter der nationalen Befreiung einstellten: Sollte die nationale Befreiung demokratisch oder nationalistisch sein? Öcalan lobte vom Gefängnis aus die erfolgreiche nationale Befreiung, insistierte jedoch scharf darauf, dass die Revolution nicht dabei stehenbleiben dürfe. Er drängte die PKK und die PKK-nahen Kräfte dazu, „Rojava“ (auf Kurdisch: „Westen“) in eine Nordsyrische Föderation zu verwandeln, die nicht kurdisch zu definieren sei, sondern als Gebilde, die alle Rechte der in Nordsyrien wohnenden Bevölkerung anerkennt und mehrere Amtssprachen besitzt – unter anderem Kurdisch. Den eher traditionalistisch ausgerichteten Kräften, die dem nordirakischen Barzani-Clan nahestehen, war die Revolution hingegen nicht national genug: Sie verlangten eine explizit kurdische Definition des Gebildes und wandten sich von den Vorschlägen der PKK-nahen Kräfte ab.
Letztlich setzte sich die demokratische Perspektive durch: Rojava und später die Nordsyrische Föderation wurde als multiethnisches, multilinguales und multireligiöses Gebiet begriffen und institutionalisiert, unterschiedliche Minderheitenquote auf unterschiedlichen Ebenen eingeführt. Mit den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) schufen die PKK-nahe Partei der Demokratischen Einheit (PYD) sowie die Volksverteidigungseinheiten (YPG) eine Militärkoalition, die quantitativ betrachtet mittlerweile mindestens zur Hälfte von nicht-kurdischen Elementen gestemmt wird, während die Stadträte der befreiten Städte entsprechend der ethnischen Bevölkerungszusammensetzung strukturiert sind. Diese Form der demokratischen Perspektive wird seitens der PYD und anderer Organisationen letztlich ganz Syrien als Lösungsmodell für die internen Konflikte vorgeschlagen.
Rätedemokratische Selbstorganisierung
Es gibt ein Kernstück, für das sich die Linke weltweit interessiert, wenn es um Rojava geht: die rätedemokratische Selbstorganisierung. Dabei übersehen Linke oft, dass das politische System in Rojava durchaus komplexer und widersprüchlicher ist. PKK-nahe Kräfte führten das Rätesystem mit der Machtübernahme 2011/12 in den Gebieten ein, in denen sie die Führung innehatten. Grenzen fand die Implementierung sowohl in der Skepsis nicht-PKK-naher und nicht-kurdischer Kräfte als auch in Schwierigkeiten bei der Umsetzung in den Gebieten, in denen der IS wütete. Dennoch: Schritt für Schritt weitete sich das Rätesystem aus.
Das Rätesystem besteht von unten nach oben aus Kommunal-, Stadtteil-/Dorfgemeinschafts- und Gebietsräten sowie einem obersten Volksrat, wobei der Volksrat quasi das politische Hauptorgan für ganz Rojava ist. Der Kern sind die einzelnen Kommunen, die je nachdem aus 40 bis 300 Haushalten eines Straßenzugs konstituiert werden. Ein- bis zweimonatlich tagt das Plenum der Kommune, an der jede*r aus der Kommune teilnehmen und mitentscheiden darf. Die Plena initiieren je nach Bedarf die nötigen Kommissionen, wählen die Koordination sowie die Ko-Vorsitzenden und entscheiden in zentralen Angelegenheiten. In der Koordination, die durchschnittlich wöchentlich tagt, treffen sich die Ko-Sprecher*innen der insgesamt acht Kommissionen (Politik, Frauen, Verteidigung, Freie Gesellschaft, Zivilgesellschaft, Ideologie, Justiz, Wirtschaft) sowie die Ko-Vorsitzenden der Kommune, um über die Koordination der einzelnen Arbeitsfelder zu diskutieren und zu beschließen. Diese Treffen sind öffentlich. Die Kommissionen hingegen arbeiten zu den jeweiligen Teilbereichen innerhalb der betreffenden Kommune: Sie beschließen Infrastrukturmaßnahmen, kümmern sich um Müllentsorgung sowie die Versorgung von Kranken und Mittellosen, organisieren die Sicherheit und wenden sich bei Problemen, die ihre Mittel überschreiten, an die höheren Strukturen. An den Kommissionen kann sich jede*r aus der Kommune beteiligen. Die Kommune ist Kern des Rätesystems und zugleich dasjenige Element, das die größtmögliche direkte Partizipation der Bevölkerung erlaubt.
Auf der nächsthöheren Ebene treffen sich die Koordinationen von sieben bis 30 Kommunen zum Plenum des jeweiligen Stadtteil- bzw. Dorfgemeinschaftsrats. Nach demselben Muster wie in den Kommunen werden die dortigen Gremien gestaltet, kontrolliert und Beschlüsse in die Tat umgesetzt. Die Eigenmächtigkeit der jeweiligen Kommunen wird dadurch gewahrt, dass sie die Stadtteilräte zusammensetzen und zugleich dadurch, dass Entscheidungen der jeweiligen Räte in den sie betreffenden Kommunen abgenickt werden müssen. Diese Kompetenz der jeweils unteren Strukturen, auch von Entscheidungen der oberen Strukturen abweichen zu dürfen oder Einspruch einzulegen, gilt für das gesamte System.
Ab der dritten Stufe des Rätesystems, dem Gebietsrat (eine gesamte Stadt plus Umfeld), engagieren sich vermehrt Parteien und NGOs. Während das Plenum erneut aus den dazugehörigen Koordinationen besteht, bekommen nunmehr Parteien, die auf der vierten und obersten Ebene des Rätesystems, dem Volksrat, aktiv sind, zusätzliche Sitze in den Plena der jeweiligen Gebietsräte. An die Gebietsräte sind zum Beispiel auch die ehemals staatlichen Kommunalverwaltungen mit ihren kommunalen Diensten und Infrastrukturen angebunden. Die Koordinationen der Gebietsräte scheinen hingegen viel stärker bei der TEV-DEM, der Koalition PKK-naher Kräfte, zu liegen. Als vierte und höchste Instanz rangiert der Volksrat Westkurdistans, der ebenfalls eng mit der TEV-DEM gekoppelt ist. In ihm werden Angelegenheiten, die ganz Rojava betreffen, koordiniert und beschlossen.
Dies klingt zunächst alles recht übersichtlich strukturiert. Allerdings bestehen seit 2014 zunehmend parallel zu den Rätestrukturen parlamentarisch-demokratische Strukturen auf Gemeinde- und Stadtebene. Hinzu kommt – seit dem Gesellschaftsvertrag von Rojava – die Gliederung Rojavas in einzelne Kantone. Letztere ist auch offen für Kräfte, die beim Rätesystem nicht mitmachen. Die Transformation von Rojava in die Nordsyrische Föderation ging zusätzlich einher mit einer Ausweitung auf Gebiete, die noch nicht einmal kantonal organisiert sind. Die Frage nach der Verteilung von Kompetenzen und Entscheidungsgewalten sowie der politischen Struktur ist damit noch verwirrender und unklarer geworden. Es scheint der Fall zu sein, dass vieles de facto geregelt wird. Es wird sich aber erst mit Ende des Krieges und der Ausdifferenzierung (klassenförmiger) Interessen zeigen, wohin sich das politische System entwickeln wird.
Fakt ist, dass neben der nationalen Befreiung insbesondere die politische Struktur des Rätesystems eine bisher nicht gesehene Massenpartizipation und Selbstermächtigung in den betreffenden Gebieten, insbesondere auf kommunaler Ebene, entfesselte.
Nicht zuletzt aus der Perspektive der Frauen(selbst)ermächtigung ist die Leistung des Rätesystems beachtlich. An der von Öcalan entwickelten Theorie der Jineologie lässt sich etwa aus westlich-feministischer Perspektive mit Fug und Recht die Naturalisierung von Geschlechterrollen kritisieren. Übersehen sollte man deshalb aber nicht, unter welchen Umständen die Frauenbewegung in Rojava entsteht und was sie zu erreichen im Stande ist: Innerhalb weniger Jahre wurden in einem erzpatriarchalen Gebiet, in dem zudem der IS mit Massenversklavung und -vergewaltigung von Frauen wütete und weiterhin wütet, Gender-Quoten in politischen und militärischen Angelegenheiten normalisiert, eigenständige Frauenräte gebildet und – als Mittel der Frauenbefreiung – eigenständige Frauen-Kampfeinheiten, die YPJ, institutionalisiert. Was strafrechtliche Angelegenheiten in Bezug auf Frauen und Kinder angeht (von Belästigung über Vergewaltigung bis hin zu häuslicher Gewalt), sind eine sonders aus Frauen gebildete Sicherheitsbehörde, die Asayisch-J, sowie aus Frauen gebildete Räte zuständig. Ähnliche Institutionen wären nicht nur in der deutschen Linken bitter nötig.
Keine Rätedemokratie ohne revolutionäre Kader-Kampfpartei
Linke Solidarität und Parteinahme für die Revolution in Rojava übersieht häufig die zentrale Rolle der revolutionären Kader-Kampfpartei. Daran hat nicht zuletzt der von Öcalan eingeleitete Paradigmenwechsel großen Anteil, insofern es in der neueren Theorie des Demokratischen Konföderalismus eigentlich keinen Platz für sie gibt. In der Praxis sieht das ganz anders aus: Ohne die Aktivität von PKK-Kadern und PKK-nahen Kräften wären weder PYD noch YPG entstanden. Rojava und die Rätedemokratie wären ohne sie undenkbar. An fast allen führenden militärischen und politischen Stellen sind PKK-Kader aktiv.
All das heißt nicht, dass alle Organisationen Tarnorganisationen der PKK sind und von ihr kontrolliert werden oder alles erstickt wird, was nicht passt oder nicht PKK-nah ist. Die Basisaktivität der Bevölkerung und die Räte sind real, auch wenn das Verhältnis von „obersten“ politischen Machtstellen und „untersten“ Räten nicht ganz durchsichtig ist. Die PKK und PKK-nahen Kader besorgen vor allem die militärische Organisation und Führung und die hohe Politik, das heißt Verhandlungen mit Assad und den anderen beteiligten Großmächten, regionenübergreifende Diplomatie mit den unterschiedlichen Gruppierungen und Interessen in Gesamt Rojava/Nordsyrien sowie weitestgehend die Kontrolle über Infrastruktur und Großbetriebe. Im Endeffekt bedingen sich in Rojava Rätedemokratie und revolutionäre Partei gegenseitig: Ohne die revolutionäre Partei hätte es nicht die Machtübernahme und Initiierung von Rätestrukturen sowie ihren Schutz vor dem IS, ohne die aktive Partizipation der Massen keine soziale Verankerung der neuen Macht und der neuen Gesellschaftsvorstellungen gegeben. Ebenso wenig wird es ohne breite Mobilisierung, so lässt sich sicher voraussagen, keine Transformation der ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse geben. Dass die Balance eine heikle ist, kennt man aus früheren sozialen Revolutionen. Auch in Rojava wird sich der Erfolg der sozialen Revolution daran bemessen, wie weit die Differenz zwischen Regierenden und Regierten aufgehoben werden wird.
Das heikle Thema der Produktionsweise
In Öcalans neueren Schriften lassen sich bekanntermaßen ganz unterschiedliche Dinge zum Thema der Wirtschaft oder der Produktionsweise finden. So nehmen sich einerseits die liberalen Argumentationsmuster, die sich entlang einer Entgegensetzung von natürlicher, demokratischer Gesellschaft und repressivem, autoritären Staat formieren, als eher moralistisch, korporatistisch und versöhnlerisch aus. Andererseits finden sich ebenso viele antikapitalistische Elemente, die auf eine Aufhebung der profitwirtschaftlich und monopolistisch organisierten kapitalistischen Produktionsweise hin zu einer kooperativen und kommunalen Ökonomie mit Fokus auf Bedürfnisbefriedigung zielen. Was Eklektizismus in der Theorie ist, stellt sich in der Praxis als ein Ganzes von teils auseinanderstrebenden Widersprüchen und Tendenzen dar.
Die von den PKK-nahen Kräften verfolgte Umstrukturierung der Wirtschaft Rojavas entwickelt sich anhand der Achse von Kooperativen und an die Rätestrukturen gebundenen Wirtschaftskommissionen. Zahlen gibt es wenige. Fakt ist, dass die Wirtschaftskommissionen der Räte- und Föderationsstrukturen alles übernahmen, was zuvor verstaatlicht war – die Rede ist von bis zu 70 bis 80 Prozent aller Ländereien. Fakt ist aber auch, dass Privatunternehmen, deren Besitzer nicht geflohen waren, sowie Großgrundbesitz nicht angefasst wurden. Der Volksrat und die föderalen Strukturen monopolisierten nicht nur die wenigen großen ehemaligen Staatsbetriebe (Elektrizität, Benzin, Brotproduktion und öffentlicher Verkehr), sondern auch die Verteilung von Grundnahrungsmitteln und verteilten deren Produkte bedarfsorientiert. Zusätzlich wurden Preiskontrollen für Grundnahrungsmittel, die über den Markt verhandelt wurden, eingeführt. Mit diesen Maßnahmen konnte eine stabile Infrastruktur und Grundversorgung der Bevölkerung garantiert werden.
Unterhalb dieser Ebene der grundlegenden und umfassenden Versorgung und Infrastruktur wird die Entwicklung einer Kooperativenwirtschaft vorangetrieben und gefördert. So wird Land, das nicht benutzt wird, sowie Gebäude und jeweilige Werkzeuge an Menschen zwecks Gründung von Kooperativen übergeben. Diese zumeist kleinen bis mittleren Einheiten übernehmen in erster Linie Subsistenzproduktion und drücken knapp 30 Prozent des Gewinns an die jeweiligen Wirtschaftskommissionen ab, die damit die Gründung neuer Kooperativen fördern. Zusätzlich kontrollieren die zuständigen regionalen und kommunalen Räte Leitung und Geschäftstätigkeit der jeweiligen Kooperativen, um einen „Betriebsegoismus“, wie er sich zum Teil in der Sowjetunion und in Jugoslawien herausbildete, zu verhindern. Die Kooperativen stellen somit kein Privateigentum dar und können auch nicht privatisiert werden. Die Werktätigen der Kooperativen betreiben sie zusammen mit den jeweiligen Rätestrukturen. Die wenigen Zahlen, die vorliegen, zeigen, dass die Kooperativenstruktur bislang noch nicht stark ausgebildet ist. Die Rede ist von etwa fünf Prozent der Wirtschaftsleistung.
Während Anhänger*innen der Revolution von Rojava den Aufbau der Kooperativenwirtschaft als Aufbau einer alternativen, nichtkapitalistischen Wirtschaft feiern, reden kritische Stimmen von „notdürftigen Übergangslösungen“. Korrekter ließe sich festhalten, dass es unterschiedliche soziale Akteure mit unterschiedlichen Interessen und ergo unterschiedlichen Vorstellungen der zukünftigen Wirtschaftsordnung in Rojava gibt, die im Rahmen einer vom Krieg dominierten Wirtschaft zusammenkommen. Aber während die Neureichen der Kriegsökonomie (Schmuggel, Handel, informelles Finanzwesen) sowie Überreste der Großgrundbesitzer und Unternehmer kein Interesse an einer nichtkapitalistischen Wirtschaftsordnung haben, wollen die PKK-nahen Kräfte die Kooperativenwirtschaft ausbauen und der linke Flügel den Kapitalismus überwinden.
Der Gesellschaftsvertrag von Rojava aus dem Jahre 2014 garantiert einerseits das Recht auf Privateigentum. Andererseits verbietet er Monopole, erklärt natürliche Ressourcen zum Gemeineigentum, erhebt die Bedürfnisbefriedigung und das würdevolle Leben für alle zum Zweck der Wirtschaft und ermöglicht Enteignungen aus sozialen Gründen bei Entschädigung des Eigentümers. Damit ist er offensichtlich eine Kompromiss-Verfassung für sehr diverse politische Akteure, die sich eben auch hinsichtlich der Frage nach der Produktionsweise unterscheiden.
Widersprüche ausnutzen oder von Widersprüchen ausgenutzt werden? Perspektiven der Revolution in Rojava
Bekanntlich kooperierten die kurdischen Kräfte und anschließend die SDF mit den USA, gleichzeitig jedoch auch mit Russland und zeitweise auch mit dem syrischen Regime, um ein Gleichgewicht zwischen den Mächten zwecks Verfolgung eigener Interessen herzustellen. Auch in der Frage der Zusammenarbeit mit regionalen und internationalen Akteuren kristallisieren sich unterschiedlichen Vorstellungen heraus: Während der linke Flügel einerseits klarmacht, dass jede Zusammenarbeit mit kapitalistischen (Groß-)Mächten nur vorübergehend und taktisch sein kann, ist der rechte Flügel daran interessiert, die USA längerfristig in Rojava zu behalten und strategisch mit ihnen zu kooperieren, mutmaßlich um die eigenen kapitalistischen Interessen zu stabilisieren.
Der Imperialismus ist im Nahen Osten stets mit dem Menschenrechtsbanner einmarschiert; Folge waren aber noch mehr Chaos, Massaker und Sektierertum – das Gegenteil von Demokratie und Pluralismus. Letztlich ist es kolonial, anderen Menschen an anderen Orten der Erde diejenigen Rechte zu versagen, die man selbst genießt. So ist es auch auf eine menschenverachtende Art und Weise zynisch, diese Errungenschaften der Revolution zur Seite zu schieben, indem man behauptet, sie seien integrierbar in die imperialistischen Pläne im Nahen Osten, da diese ja auch die „Menschenrechte“ und den „Pluralismus“ hochhielten. Es ist der Krieg, der in Kombination mit den klugen taktischen Schritten der PKK-nahen Kräfte eine Koalition aus ganz unterschiedlichen Kräften in Rojava/Nordsyrien möglich gemacht hat. Ob aber Großgrundbesitzer und -unternehmer in der Region ein Interesse an der Ausweitung der demokratischen Revolution über den bürgerlichen Rahmen hinaus oder gar an einer Vertiefung der sozialen Revolution haben – daran darf mit Fug und Recht gezweifelt werden. Es wird sich mit Ende des Krieges – so dies stattfindet – zeigen, welche Interessen sich stärker durchsetzen werden und wie weit die Revolution gehen wird.