Wir suchen wieder Rezensent:innen! Ausgabe #77: Der Wert des Körpers
Über unseren Körper erfahren wir die Welt – keine Seele ohne Leib. Dabei ist der Körper nicht nur Ort von Lust und Angst, von Begehren und psychischen Konflikten, sondern auch Mittel kapitalistischer Ausbeutung und Schauplatz gesellschaftlicher Kämpfe. In ihn schreiben sich Ideale, Normen und Machtverhältnissen ein. Er ist niemals bloß gegeben, sondern stets politisch, ökonomisch und kulturell geformt. Dem Kapitalismus dient er als Ressource: Er soll funktionieren, etwas leisten und durchhalten. Doch die Arbeit verschleißt und deformiert den Körper, die Ausbeutung im Auftrag der ökonomischen Profite lässt ihn frühzeitig altern, plagt ihn mit chronischen Schmerzen und Erkrankungen. Die Lebenserwartung von Menschen unterscheidet sich deutlich je nach sozialem Status. In unseren Körpern drückt sich die tiefe soziale Ungleichheit aus. Kurz gesagt: Reiche Menschen leben länger als arme. Der Körper wird damit zum ganz physischen Beweis der Gewalt der Klassengesellschaft. Didier Eribon schrieb in „Die Rückkehr nach Reims“ (2009): „Das Wort ‚Ungleichheit‘ ist eigentlich ein Euphemismus, in Wahrheit haben wir es mit nackter, ausbeuterischer Gewalt zu tun. Der Körper einer alternden Arbeiterin führt allen die Wahrheit der Klassengesellschaft vor Augen.“
Gleichzeitig beobachten wir, wie neoliberale Diskurse die Verantwortung für die körperliche Gesundheit und eine höhere Lebenserwartung immer weiter ins Private verschieben. Wer sich nicht diszipliniert, gesund ernährt oder seinen Körper pflegt, hat es selbst zu verantworten – über strukturelle Ursachen wird nicht diskutiert. Sozialer Ungleichheit soll mit der Umstellung des eigenen Lebensstils entgegengetreten werden. Dass diese Strategien in der Gesellschaft verfangen, zeugt davon, dass Körper aber nicht nur materiell ausgebeutet werden, sondern auch auf vielfache Weise ideologisch aufgeladen sind. Sie müssen schön, gesund und jung sein oder zumindest danach streben – ein Anspruch, der sich beispielsweise im Silicon Valley bis ins Absurde steigert, wenn Transhumanist*innen versuchen, mittels technologischer Innovationen Unsterblichkeit zu erlangen. Wer von diesen Normen abweicht, wird schnell zur Last für das Gesundheitssystem oder gar für die ganze Gesellschaft. So ist sich das türkische Gesundheitsministerium bei einer aktuellen Kampagne keiner Demütigung zu schade, wenn es im „Kampf gegen Übergewichtigkeit“ Bürger*innen öffentlich wiegen lässt. Diese biopolitische Kontrolle soll „abweichende“ Körper mit dem Ziel sichtbar machen, sie zu pathologisieren und zu disziplinieren. Sie lenkt von strukturellen Problemen ab und sucht die vermeintliche Schuld beim individuellen Körper.
Welche Körper gelten als schützenswert – und welche als entbehrlich? Das ist stets eine Frage von Machtverhältnissen. So stehen rassifizierte Körper, queere Körper, trans* Körper, behinderte Körper, weibliche Körper, alte oder proletarische Körper in spezifischen historischen, politischen und ökonomischen Kontexten. Black Lives Matter hat nicht zuletzt deutlich gemacht, wie zentral der Schwarze Körper im Kampf gegen rassistische Gewalt ist – sichtbar gemacht als Zielscheibe, aber auch als widerständiger, politischer Körper. Trans* Personen fordern das Recht auf körperliche Selbstbestimmung – gegen medizinische Willkür, staatliche Kontrolle und gesellschaftliche Stigmatisierung. Behinderte Aktivist*innen kämpfen für Barrierefreiheit, Würde und Sichtbarkeit jenseits kapitalistischer Leistungsfähigkeit. Einen „neutralen“ Körper gibt es also nicht. Wir kommen nicht aus der eigenen Haut. Für unsere Oktober-Ausgabe wollen wir verstehen, wie der Kapitalismus Körper physisch und ideologisch zurichtet. Gemeinsam mit euch wollen wir diskutieren, wie eine emanzipatorische Körperpolitik aussehen kann. Was sind uns eigentlich unsere Körper wert?
Wir suchen Menschen, die Bücher, Broschüren, Sammelbände und Literatur zum Thema für Menschen jeden Alters besprechen möchten. Es sind sowohl Rezensionen aktueller und älterer Publikationen willkommen als auch Hinweise für interessante Publikationen, die in unserer Liste fehlen! Ihr arbeitet zu dem Thema aktivistisch, wissenschaftlich oder publizistisch? Ihr habt eine interessante Fragestellung zum Thema am Wickel und könntet euch vorstellen, ein Essay oder Interview zur Ausgabe beizutragen? Auch hier gern her mit euren Vorschlägen! Einsendeschluss für eure Vorschläge zum Schwerpunkt ist der 25.6.2025.
Zudem suchen wir jederzeit Rezensent:innen für aktuelle Neuerscheinungen in anderen Themengebieten. Auch Romane und Kinderbücher sind immer gern gesehen! Insbesondere möchten wir FLINTA*s ermutigen, uns Rezensionen anzubieten.
Wenn ihr Interesse habt, dann schickt eure Ideen bitte mit einer kurzen Begründung und ein paar Worten zu euch selbst an redaktion@kritisch-lesen.de oder an eines der Redaktionsmitglieder. Wir entscheiden nach Eingang der Vorschläge, welche Rezensionen wir gerne in der Ausgabe dabei hätten – und melden uns bei euch. Der Einsendeschluss der fertigen Rezensionen ist der 22.8.2025.
Literaturvorschläge
May Ayim: Grenzenlos und unverschämt. Mit Vorwort von Josephine Apraku und biografischem Essay von Silke Mertins. 2. Auflage, Unrast Verlag, Münster 2022.
Darla Diamond, Petra Pflaster, Len Schmid (Hg.): Lookismus – Normierte Körper – Diskriminierende Mechanismen – (Self-)Empowerment. Unrast Verlag, Münster 2022.
Julia Fritzsche: Oben ohne. Nautilus Flugschrift. Edition Nautilus, Hamburg 2024.
Silvia Federici: Jenseits unserer Haut – Körper als umkämpfter Ort im Kapitalismus. Unrast Verlag, Münster 2022.
Nadine Glade, Christiane Schnell (Hg.): Perfekte Körper, perfektes Leben? Selbstoptimierung aus der Perspektive von Geschlecht und Behinderung. Transcript Verlag, Bielefeld 2022.
Jule Govrin: Politische Körper. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2022.
Robert Gugutzer: Soziologie des Körpers. Transcript Verlag, Bielefeld 2022.
Katharina Hantke: Vagina Dentata. Ein Graphic Essay. edition assemblage, Münster 2025.
Donna Haraway: Manifesto for Cyborgs: Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980s. In: Socialist Review. Band 80, 1985.
Anja Herrmann, Tae Jun Kim, Evangelia Kindinger, Nina Mackert, Lotte Rose, Friedrich Schorb, Eva Tolasch, Paula-Irene Villa (Hg.): Fat Studies. Ein Glossar. Transcript Verlag, Bielefeld 2022.
Susanna Hast: Beweiskörper. Edition Nautilus, Hamburg 2025.
Markus Metz, Georg Seeßlen: Wir Untote – Über Posthumane, Zombies, Botox-Monster und andere Über- und Unterlebensformen in Life Science & Pulp Fiction. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2012.
Imke Schmincke, Torsten Junge: Marginalisierte Körper – Beiträge zur Soziologie und Geschichte des anderen Körpers. Unrast Verlag, Münster 2007.
Max Franz Johann Schnetker: Transhumanistische Mythologie – Rechte Utopien einer technologischen Erlösung durch künstliche Intelligenz. Unrast Verlag, Münster 2019.
Philipp von Becker: Der neue Glaube an die Unsterblichkeit: Transhumanismus, Biotechnik und digitaler Kapitalismus. Passagen Verlag, Wien 2015.
Bettina Wilpert: Die bärtige Frau. Verbrecher Verlag, Berlin 2025.