Wir suchen wieder Rezensent:innen! Ausgabe #76: Kein Mensch ist eine Insel – oder doch?
Orte der Sehnsucht, der Entfaltung und der Freiheit? Oder Orte der Verbannung und Isolation? Inseln sind Schauplätze utopischer Träume – und Albträume von Herrschaft und Kontrolle. Denken wir an Alcatraz, Robben Island oder die Gefängnisinsel İmralı, auf der der kurdische Revolutionär Abdullah Öcalan seit 1999 isoliert wird. Inseln werden immer wieder genutzt, um unliebsame Menschen dem Blick der Gesellschaft zu entziehen – politische Gefangene, Aufständische, Abtrünnige, Menschen auf der Flucht. Sie sind Teil einer globalen Sicherheitsarchitektur, die sich immer brutaler gegen diejenigen richtet, die im Sinne privilegierter Staatsprojekte unerwünscht sind. Die europäischen Außengrenzen sind ein Netzwerk von Inseln: Lampedusa, Samos oder Lesbos sind schon lange keine Urlaubsziele mehr, sondern stehen heute für abschottbare Orte des Ausharrens, der Entrechtung, der Hoffnungslosigkeit.
Das ist keine neue Entwicklung. Inseln sind eng mit der Geschichte von Kolonisierung, geostrategischen Interessen, kriegerische Auseinandersetzungen und Ausbeutung verwoben. Die Karibik, der Pazifik, der Indische Ozean – überall auf der Welt wurden Inseln zu Plantagen, zu Militärstützpunkten, zu Orten der Versklavung und des Rohstoffraubs. Heute sind sie Spielbälle eines Inselkapitalismus: Sie sind Steuerparadiese für die Superreichen, Privatbesitz abseits von Gesetzen und Strafverfolgung und nicht zuletzt vermeintlich idyllische Tourismusparadiese, die auf Naturzerstörung, Ausbeutung und Verdrängung der dort lebenden Menschen basieren.
„No man is an island“, schrieb der englische Dichter John Donne im 17. Jahrhundert und meinte damit, dass kein Mensch völlig unabhängig von anderen existiert – eine frühe Form der Idee, dass unsere Leben miteinander verwoben sind. Karl Marx zufolge produziert der Kapitalismus nämlich genau das Gegenteil: isolierte Individuen. Den Vorstellungen Gottfried Wilhelm Leibniz‘ folgend nutzt er den Begriff der abgekapselten Monade, die einzig auf sich selbst angewiesen ist. Marx kritisiert die Idee der kapitalistischen Vereinzelung, weil sie leugnet, dass der Mensch grundlegend in soziale und gesellschaftliche Verhältnisse eingebunden ist.
Aber: Inseln sind nicht nur Orte der Isolation, sondern auch des Widerstands. Haiti wurde zum Symbol einer antikolonialen Revolution, als die versklavte Bevölkerung ihre Kolonialisten besiegte und die erste Schwarze Republik gründete. Kuba blieb über Jahrzehnte ein Kristallisationspunkt sozialistischer Visionen und internationaler Solidarität. Auch Korsika, Irland, die Karibik – Inseln waren und sind nicht nur Orte der Unterdrückung, sondern auch der Rebellion.
Doch was bedeutet das heute? Wer wird verbannt, wer darf anlanden, wer wird eingesperrt? Welche Inseln haben ihren Platz in der Literatur, in Abenteuerfilmen und Fernsehshows gefunden, in der Philosophie, in der politischen Praxis? Wo führen Inseln zur Vereinzelung, zur Kontrolle und zur Isolation – und wo sind sie wasserumgrenzte Orte des Widerstands, der Solidarität und kollektiver Kämpfe?
Für unsere nächste Ausgabe suchen wir Rezensent*innen und Gesprächspartner*innen, die sich gemeinsam mit uns mit Inseln als Orten der Macht, der Sehnsucht und des Widerstands auseinandersetzen wollen. Welches Buch würdest du auf eine einsame Insel mitnehmen, um es für uns zu rezensieren? :)
Wir suchen Menschen, die Bücher, Broschüren, Sammelbände und Literatur zum Thema für Menschen jeden Alters besprechen möchten. Es sind sowohl Rezensionen aktueller und älterer Publikationen willkommen als auch Hinweise für interessante Publikationen, die in unserer Liste fehlen! Ihr arbeitet zu dem Thema aktivistisch, wissenschaftlich oder publizistisch? Ihr habt eine interessante Fragestellung zum Thema am Wickel und könntet euch vorstellen, ein Essay oder Interview zur Ausgabe beizutragen? Auch hier gern her mit euren Vorschlägen! Einsendeschluss für eure Vorschläge zum Schwerpunkt ist der 10.3.2025.
Zudem suchen wir jederzeit Rezensent:innen für aktuelle Neuerscheinungen in anderen Themengebieten. Auch Romane und Kinderbücher sind immer gern gesehen! Insbesondere möchten wir FLINTA*s ermutigen, uns Rezensionen anzubieten.
Wenn ihr Interesse habt, dann schickt eure Ideen bitte mit einer kurzen Begründung und ein paar Worten zu euch selbst an redaktion@kritisch-lesen.de oder an eines der Redaktionsmitglieder. Wir entscheiden nach Eingang der Vorschläge, welche Rezensionen wir gerne in der Ausgabe dabei hätten – und melden uns bei euch. Der Einsendeschluss der fertigen Rezensionen ist der 10.5.2025.
Literaturvorschläge:
Hau'ofa, Epeli (2019): Rückkehr durch die Hintertür. Unionsverlag, Zürich.
Leibniz, Gottfried Wilhelm (1714/1998): Monadologie (Französisch/Deutsch). Übersetzt und herausgegeben von Hartmut Hecht. Reclam, Stuttgart.
Varatharajah, Sinthujan (2022): an alle orte, die hinter uns liegen. hanserblau, München.
Grillmeier, Franziska (2023): Die Insel. Ein Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas. C.H. Beck, München.
Parkin, Simon (2023): Die Insel der außergewöhnlichen Gefangenen. Deutsche Künstler in Churchills Lagern. Aufbau Verlag, Berlin.
Aldous Huxley, Aldous (1962/1996): Eiland. Piper, München/Zürich.
Schalansky, Judith (2009): Atlas der abgelegenen Inseln. Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde. mare Verlag, Hamburg.
Billig, Volkmar (2010): Inseln. Geschichte einer Faszination. Matthes & Seitz, Berlin.
Meynen, Gloria (2020): Inseln und Meere. Zur Geschichte und Geografie fluider Grenzen. Matthes & Seitz, Berlin.
Ghosh, Amitav (2023): Der Fluch der Muskatnuss. Matthes & Seitz, Berlin.
Melandri, Francesca (2019): Über Meereshöhe. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin.
Sands, Philippe (2023): Die letzte Kolonie – Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Indischen Ozean. S. Fischer, Frankfurt am Main.
Giles, Harry Josephine (2021): Deep Wheel Orcadia. Picador Poetry, London.
Boochani, Behrouz (2020): Kein Freund außer den Bergen. Nachrichten aus dem Niemandsland. btb Verlag, München.
Vine, David (2008): Island of Shame: The Secret History of the U.S. Military Base on Diego Garcia. Princeton University Press, Princeton, NJ.
Özdamar, Emine Sevgi (2021): Ein von Schatten begrenzter Raum. Suhrkamp Verlag, Berlin.
Salle, Grégory (2022): Superyachten – Luxus und Stille im Kapitalozän. Suhrkamp Verlag, Berlin.
Al Shahmani, Usama (2025): Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt. Union Verlag, Zürich.
Wheatle, Alex (2023): Cane Warriors – Niemand ist frei, bis alle frei sind. Verlag Antje Kunstmann, München.
Geber, Eva (2019): Louise Michel – Texte und Reden. bahoe books, Wien.