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Wir suchen wieder Rezensent:innen! Ausgabe #75: Erbe(n)

Erbe ist mehr als nur finanzieller Wohlstand, der uns in die Wiege gelegt wird. Es umfasst Geschichten, Traditionen, politische Ideale und auch schmerzhafte Lasten. Doch wer erbt eigentlich was – und wollen wir überhaupt alles, was uns hinterlassen wird?

Die ökonomische Dimension von Erbe ist enorm: Im Jahr 2023 erreichte das vererbte und geschenkte Vermögen in Deutschland mit 121,5 Milliarden Euro einen neuen Rekordwert. Dies verdeutlicht nicht nur die immense finanzielle Tragweite dieser Vermögensübertragungen, und wie auch bei der allgemeinen Vermögensverteilung konzentrieren sich große Erbschaften stark: Die oberen 2 % der Nachlässe vereinen etwa ein Drittel des gesamten Erbschaftsvolumens auf sich. Große Vermögen verbleiben fast immer in wenigen, wohlhabenden Familien und werden somit über Generationen hinweg weitergegeben, während ein Großteil der Menschen wenig, gar nichts oder gar Schulden erbt. Die ökonomische Ungleichheit wird durch steuerliche und intransparente Begünstigungen weiter zementiert. Wer sich also die Kluft zwischen arm und reich ansieht, kommt um das Thema Erben nicht herum.

Welche politischen Stellschrauben gibt es diesbezüglich? Welche Forderungen sind sinnvoll? Was bedeutet es beispielsweise, ein Erbe auszuschlagen? Könnte hier ein kritisch-solidarischer Umgang neue Wege aufzeigen?

Doch nicht nur auf individueller monetärer Ebene ist das Thema relevant. Aus ökologischer Sicht ist unser aller Erbe bedroht: Während die Agrarindustrie die natürlichen Ressourcen erschöpft, kämpfen Aktivist*innen für den Erhalt seltener Saaten und setzen auf nachhaltige Konzepte wie Permakulturen. Und während der industrielle wie kriegerische Kapitalismus seit nunmehr über zweieinhalb Jahrhunderten auf die Energieträger Kohle und Öl setzt, sehen wir und nachfolgende Generationen uns mit fundamentalen Umwälzungen der Klimaordnung konfrontiert. Was hinterlassen wir zukünftigen Generationen in einer Zeit der Umweltzerstörung und des Klimawandels? Können wir noch auf ein intaktes ökologisches Erbe hoffen, oder sind wir bereits dabei, dieses unwiderruflich zu verspielen?

Neben der materiellen hat Erbe also auch immaterielle Dimensionen: Unser kulturelles, historisches und politisches Erbe wirft ebenfalls Fragen auf. An welche Traditionen und politischen Kämpfe wollen wir anknüpfen? Welche Errungenschaften aus der Geschichte linker Bewegungen können uns Orientierung geben, und welche Formen des unsichtbaren Erbes – sei es durch Klassenunterschiede, transgenerationale Traumata oder psychische Lasten – beeinflussen uns? Was heißt es beispielsweise, als Enkel*innengeneration von NS-Täter*innen Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen? Wie gehen wir mit den belastenden Familiengeschichten um, die uns oft verheimlicht oder unbewusst weitergegeben werden?

Eine wichtige Erweiterung auf Erbe(n) ist der Blick über den eurozentristischen Tellerrand hinaus: Welche Folgen hat beispielsweise das koloniale Erbe für heutige Generationen weltweit? Konzepte wie der Afropessimismus sind dabei wichtige Perspektiven, die die fortdauernde Strukturgeschichte des Rassismus als eine Form des „vererbten“ gesellschaftlichen Status anerkennen, der auf Entmenschlichung und Ausbeutung basiert. Dieses Erbe ist also nicht nur ein ökonomisches Erbe, sondern auch ein kulturelles Erbe der Gewalt und der sozialen Ausschließung.

Lasst uns darüber diskutieren, was wir antreten – ob es nun materiell, kulturell, historisch oder psychisch ist. Was wollen wir bewahren, was ablehnen, und wo setzen wir neu an? Passend zu unserer Jubiläumsausgabe #75 widmen wir uns kaleidoskopisch dem Thema Erbe(n) und sind gespannt auf eure Vorschläge!

Wir suchen Menschen, die Bücher, Broschüren, Sammelbände und Literatur zum Thema für Menschen jeden Alters besprechen möchten. Es sind sowohl Rezensionen aktueller und älterer Publikationen willkommen als auch Hinweise für interessante Publikationen, die in unserer Liste fehlen! Ihr arbeitet zu dem Thema aktivistisch, wissenschaftlich oder publizistisch? Ihr habt eine interessante Fragestellung zum Thema am Wickel und könntet euch vorstellen, ein Essay oder Interview zur Ausgabe beizutragen? Auch hier gern her mit euren Vorschlägen! Einsendeschluss für eure Vorschläge zum Schwerpunkt ist der 9.12.2024

Zudem suchen wir jederzeit Rezensent:innen für aktuelle Neuerscheinungen in anderen Themengebieten. Auch Romane und Kinderbücher sind immer gern gesehen! Insbesondere möchten wir FLINTA*s ermutigen, uns Rezensionen anzubieten.

Wenn ihr Interesse habt, dann schickt eure Ideen bitte mit einer kurzen Begründung und ein paar Worten zu euch selbst an redaktion@kritisch-lesen.de oder an eines der Redaktionsmitglieder. Wir entscheiden nach Eingang der Vorschläge, welche Rezensionen wir gerne in der Ausgabe dabei hätten – und melden uns bei euch. Der Einsendeschluss der fertigen Rezensionen ist der 31.1.2025

Literaturvorschläge:

Galit Atlas 2023: Emotionales Erbe – Eine Therapeutin, ihre Fälle und die Überwindung familiärer Traumata. Dumont Köln.

Luc Boltanski, Arnaud Esquerre 2018: Bereicherung – Eine Kritik der Ware. Suhrkamp Berlin.

Christoph Butterwegge 2020: Die zerrissene Republik: Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland. Beltz Weinheim.

Jürgen Dinkel 2023: Alles Bleibt in der Familie – Erben und Eigentum in Deutschland, Russland und den USA seit dem 19. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag Göttingen.

Emmanuel Droit, Nicolas Offenstadt (Hrsg.) 2022: Das rote Erbe der Front – Der Erste Weltkrieg in der DDR. De Gruyter Oldenbourg.

Annie Ernaux 2017: Die Jahre. Suhrkamp Berlin.

Julia Friedrichs 2024: Crazy Rich – Die geheime Welt der Superreichen. Piper Verlag München.

Julia Friedrichs 2015: Wir erben! Was Geld mit Menschen macht. Piper Verlag München.

Alberto Grandi 2024: Mythos Nationalgericht. Die erfundenen Traditionen der italienischen Küche. HarperCollins Hamburg.

Yaa Gyasi 2017: Heimkehren. Dumont Köln.

Yanick Haan 2023: Enterbt uns doch endlich! Wie das Erben meine Generation zerreißt. Trabanten Verlag Berlin.

Roman Krznaric 2024: Der gute Vorfahr. Langfristiges Denken in einer kurzlebigen Welt. Dumont Köln.

Stephan Lessenich 2016: Neben uns die Sintflut – Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Hanser Berlin.

Domenico Losurdo 2023: Der Kommunismus. Geschichte, Erbe und Zukunft. PapyRossa Köln.

Thomas Piketty 2020: Kapital und Ideologie. C.H. Beck München.

Marianne Rauwald 2020: Vererbte Wunden: Transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen. Beltz Weinheim