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Wir suchen wieder Rezensent:innen!
Ausgabe #71: Politisches Affekttheater

Es ist Dezember, draußen ist's eklig, drinnen ist Redaktionssitzung. Wir haben viele Emotionen der letzten Wochen auf den Tisch gepackt, haben Trauer, Wut, Rückzug und Resignation besprochen, aber auch Entschlossenheit, Empathie, Sorge und Mut. Die Welt brennt – der Krieg in Nahost, in Sudan, in der Ukraine; Menschenrechtsverletzungen, wohin man blickt; weltweit stärken autoritäre, faschistoide, ultralibertäre, menschenfeindliche Arschlöcher ihre Einflusssphären. Sie nutzen die Macht der Emotionen, um Menschen hinter sich zu versammeln. Sei es die Angst vor dem Terror oder die Angst vor dem Fremden, vor der Staatenkonkurrenz oder vor dem globalen Kollaps – Angst ist eine der stärksten Emotionen, mit denen sich reaktionäre und repressive Politik machen lässt. Es wird viel über Wutbürger, über Gefühle von rechts gesprochen, die AfD und andere wollen die „Sorgen und Ängste der Menschen ernst nehmen“. Und natürlich sind Gefühle gut fürs Geschäft: (Auf)Rüstung, Sicherheitstechnologien, Big Data – weit weniger würde sich davon verkaufen lassen, müssten nicht alle ständig so viel Angst und Sorge haben. Die Produktion von Gefühlen läuft ebenso auf Hochtouren wie die der Mittel dagegen.

Wir sehen natürlich einerseits, dass alle möglichen Gefühle in sind – wie es auch an der Konjunktur der feel good/selfcare/Achtsamkeits-Appelle und passender Produktpalette dazu zu beobachten ist. Andererseits ist das social engineering über Gefühle und, noch viel unmittelbarer, über Affekte ein immer wirksameres politisches Mittel geworden – Stichwort feministische Außenpolitik oder die erwähnten rechten Einflussnahmen.

Das Interessante daran ist, dass bestimmte Gefühle sich automatisch einstellen, sobald sie angetriggert werden – als würden einzelne Signalworte ausreichen, um eine politische Haltung herzustellen. Über die eigene Haltung wird weniger nachgedacht, das Gefühl, oder der Affekt, werden direkt in eine ideologische Übersetzung gelenkt. So ist der Manipulation von Gefühlen Tür und Tor geöffnet. Das sehen wir beispielsweise an der Art emotionalisierter Berichterstattung, die Gefühle lenkt und gewaltvolle, autoritäre Reaktionen normalisiert. Man könnte davon ausgehend meinen, rechte Politik und (präkognitive) Affekte sind das Paar der Stunde. Aber auch Linke sind davon nicht frei. Was machen wir also mit unseren Gefühlen, und den Gefühlen der Menschen um uns herum?

Was uns bleibt, ist einen Umgang damit zu finden. Linke Forderungen danach, Emotionen und Affekten Raum in der politischen Arena zu geben, sind ja nicht neu: Sie sind seit Jahrzehnten ein Moment der feministischen Bewegungen, auch weil sie gegen die Vorstellung gerichtet sind, es gäbe eine „neutrale“ Politik jenseits von Gefühlen, eine wirkliche Trennung von Ratio und Emotionen. Nur bei den Gefühlen darf es natürlich nicht bleiben, sie müssen stets zu emanzipatorischen politischen Forderungen führen. Ähnliche Ansätze sehen wir auch in antirassistischen Kämpfen, etwa in der Arbeit von Selbstorganisationen wie der Initiative 19. Februar. Sie weisen auf die Existenzberechtigung, ja vielmehr das untrennbare Vorhandensein von Gefühlen in der politischen Arbeit hin und verstehen diese ausdrücklich als Motor für emanzipatorische Kämpfe. Diese Anerkennung kann Grundlagen von Organisierung schaffen: Es intensiviert solidarische Strukturen, ermöglicht Rückzug und Verantwortung für Sorgearbeit und schweißt Kollektive zusammen. Als politisch verstandene Emotionen sind ein Gegenmittel zu neoliberal auf die Spitze getriebener Individualisierung, Aufmerksamkeitsökonomie und Interessenspolitik.

Wir suchen wieder Rezensent:innen für unseren nächsten Schwerpunkt. Wir fragen uns: Was fangen wir jetzt mit den Gefühlen an? Welche Emotionen bewegen uns kollektiv? Wann und in welcher Form sind Affekte und Emotion Ausgangspunkt für politische Bewegungen, und worin liegt dabei ein emanzipatorischer Gedanke? Wie können wir uns Gefühle jenseits des neoliberalen und rechten Affekttheaters wieder aneignen?

Es geht in unserer April 2024-Ausgabe um Fragen der Gefühle und Affekte – seid ihr dabei? Wir suchen Menschen, die Bücher, Broschüren, Sammelbände und Literatur zum Thema für Menschen jeden Alters besprechen möchten. Es sind sowohl Rezensionen aktueller und älterer Publikationen willkommen als auch Hinweise für interessante Publikationen, die in unserer Liste fehlen! Einsendeschluss für eure Vorschläge zum Schwerpunkt ist der 18.12.2023.

Zudem suchen wir jederzeit Rezensentinnen für aktuelle Neuerscheinungen in anderen Themengebieten. Auch Romane und Kinderbücher sind immer gern gesehen! Insbesondere möchten wir FLINTAs ermutigen, uns Rezensionen anzubieten. Wenn ihr Interesse oder weitere Ideen habt, dann schickt eure Vorschläge bitte mit einer kurzen Begründung eures Interesses und ein paar Worten zu euch selbst an redaktion@kritisch-lesen.de oder an eines der Redaktionsmitglieder.

Wir entscheiden nach Eingang der Vorschläge, welche Rezensionen wir gerne in der Ausgabe dabei hätten – und melden uns dann bei euch. Der Einsendeschluss der fertigen Rezensionen ist der 29.01.24.

Literaturvorschläge

Frederik Metje 2023: Gefühlspolitische Selbst-Bildung – Zum kritischen Umgang mit politischen Gefühlen. transcript. Bielefeld.

Annie Ernaux 2020: Die Scham. Suhrkamp. Berlin.

Simon Strick 2023: Rechte Affekte. Affekte und Strategien des digitalen Faschismus. transcript. Bielefeld.

Mattias Iser 2008: Empörung und Fortschritt: Grundlagen einer kritischen Theorie der Gesellschaft. Campus. Frankfurt am Main.

Şeyda Kurt 2023: Hass – Von der Macht eines widerständigen Gefühls. Harper Collins. Hamburg.

Max Czollek, Mirjam Wenzel, Erik Riedel (Hg) 2022: Rache – Geschichte und Fantasie. Hanser. München.

Marietta Kesting, Susanne Witzgall (Hg.) 2021: Politik der Emotionen/Macht der Affekte. Diaphanes. Zürich.

Sara Ahmed 2018: Das Glücksversprechen – Eine feministische Kulturkritik. Unrast. Münster.

Audre Lorde 2021: Ein strahlendes Licht. AKI. Zürich.

Lauren Berlant 2011: Cruel Optimism. Duke University Press. Durham.

Tung Hui-Hu 2024: Digital Lethargy. MIT Press. Cambridge.

Silke Ohlmeier 2023: Langeweile ist Politisch. Leykam. Graz.

Nadia Shehadeh 2023: Anti-Girlboss – Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen. Ullstein. Berlin.