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Wir suchen wieder Rezensent:innen!
Ausgabe #70: Die Geschichte der Polizei

Menschen aller Altersstufen setzen sich jede Woche zum sonntäglichen „Tatort“ zusammen und die Kleinen werden mit „Paw Patrol“ ruhiggestellt. Ob kampferfahrene martialische Brecher, die in ihrem endlosen Ringen von Gut gegen Böse gegen Mafiabosse, Serienkiller und Bankräuber Kugeln und Fäuste fliegen lassen, suchterfahrene, melancholische Kriminalkommissar:innen, die die Tiefen der menschlichen Psyche ausloten oder junge enthusiastische Straßencops, die die harte Realität des Bulle-Seins kennenlernen und ganz nah an „den Menschen“ arbeiten wollen: das sind nur ein paar der vielen Facetten, die uns die Fiktion über den Alltag der Polizei anbietet. Sie zeigen, wie normalisiert die Polizei in unserer Gesellschaft ist. Allerdings sind die „Helfer:innen“ oder „Freund:innen“ in Uniform in der Realität oft alles andere als beschützende Held:innen. Für viele Menschen sind sie die Gefahr selbst. Warum das so ist, dafür gibt es viele Gründe: Institutioneller Rassismus, Corpsgeist, Männlichkeit, Gesetze, die das Eigentum sichern und viele mehr. Um zu verstehen, warum die Polizei trotzdem mit all ihrer vom Staat ausgestatteten Macht so unhinterfragt existiert, müssen wir uns die Geschichte der Polizei ansehen.

Die Polizei, wie wir sie kennen – als Institution zur Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols – etablierte sich in Europa und den USA erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ihr ursprünglicher Name, Polizey, aber ist älter und beschreibt einen Regierungsmodus der Sicherheit, der bereits seit dem ausgehenden Mittelalter an Bedeutung gewann. Vom 15. bis ins 18. Jahrhundert hinein wurden unzählige Ländereien privatisiert und Leibeigene sowie Kleinbauern vertrieben, die in die immer größer werdenden Städte abwanderten. Dort, als in Armut gehaltene Reservearmee für die entstehenden Fabriken, stellten sie für die Obrigkeit bald eine schwer zu regierende „Gefahr“ dar. Mit der von Fürsten, Königen und Rechtsgelehrten betriebenen „Polizeywissenschaft“ etablierte sich ein neuer Typus der Menschenführung, der führend und leitend sein sollte. Die Polizei tritt hier als Ordnungsprinzip auf, indem sie unproduktive Kräfte eliminiert und die Kraft des Staates erhöht. Vor allem dient sie der Überwachung der Menschen und der Warenzirkulation in den jungen, entstehenden Nationalstaaten Europas.

Außerdem wollte die Obrigkeit sich vor vermeintlichen Kriminellen schützen. Gegenstand der Verordnungen waren bereits damals Marginalisierte: Vagabunden, Romn:ja und Sinte:zze, Jüd:innen, Diebe, Sexarbeiter:innen und Frauen, die als Hexen gebrandmarkt wurden. In den Südstaaten der USA hatten sich zudem privat bezahlte Sklavenpatrouillen etabliert, da die Sorge vor Rebellionen wuchs. Teile ihrer Praxis, wie zum Beispiel Passkontrollen und Hausdurchsuchungen, wurden später auch von Polizeien Europas und der Nordstaaten übernommen. Rassismus ist eine zentrale Strukturkategorie der Polizei; genauso wie die Disziplinierung und Bestrafung von Armen durch die Legitimierung der Zwangsarbeit als Strafe. Die Auswirkungen dieser Politiken sind bis heute in den Abwertungen und Bestrafungen von marginalisierten Menschen sicht- und spürbar.

Mit dem Ende des 18. Jahrhunderts und dem Einsetzen des Liberalismus etablierte sich die Vorstellung, dass die Polizei das Interesse des Privateigentums schützen solle, statt nur die Warenzirkulation zu kontrollieren. Die Polizei wurde in der Rolle zur Durchsetzung des Rechts und Abwehr von Gefahren neu konzipiert und entwickelte sich schließlich zur Polizei als Institution. In diesem Zuge wurde eine kriminelle Klasse geschaffen: Unter Zuhilfenahme von medizinischen „Erkenntnissen“ wurde ein Glauben an genetische Kriminalität etabliert, was zu Profiling und zur sogenannten präventiven Verbrechenskontrolle führte. Gleichzeitig wurde die Polizei mehr und mehr zum Durchsetzungsorgan der herrschenden Klasse und zur Niederschlagung von Streiks und Massenprotesten eingesetzt. Nicht zuletzt zeigt die deutsche Geschichte, wie schnell eine liberal-rechtsstaatliche Polizei zur Terrorinstanz werden kann. Der NS stattete die Polizei mit Befugnissen aus, die sie in alle Lebensbereiche straffrei intervenieren ließ. Die Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden, der Romnja und Sintezze, der politisch Verfolgten, war eine polizeiliche Operation. Bis heute gilt: Obwohl das Recht der zentrale Legitimationsrahmen der Polizei ist, kann sie sich leicht von ihren gesetzlichen Schranken befreien und souverän agieren, indem sie für sich selbst den Ausnahmezustand erklärt.

Es ist nicht so, dass es die Polizei schon immer gegeben hat; das heißt: Es muss sie auch nicht für immer geben! Diese Hoffnung wollen wir theoretisch untermauern und suchen Rezensent:innen für unsere kommende Ausgabe zur Geschichte und Gegenwart der Polizei. Seid ihr dabei?

Wir suchen für unsere Ausgabe Menschen, die Bücher, Broschüren, Sammelbände und Literatur zum Thema für Menschen jeden Alters besprechen möchten. Es sind sowohl Rezensionen aktueller und älterer Publikationen willkommen als auch Hinweise für interessante Publikationen, die in unserer Liste fehlen! Einsendeschluss für eure Vorschläge zum Schwerpunkt ist der 25.09.2023.

Zudem suchen wir jederzeit Rezensent:innen für aktuelle Neuerscheinungen in anderen Themengebieten. Auch Romane und Kinderbücher sind immer gern gesehen! Insbesondere möchten wir FLINTA:s ermutigen, uns Rezensionen anzubieten.

Wenn ihr Interesse oder weitere Ideen habt, dann schickt eure Vorschläge bitte mit einer kurzen Begründung eures Interesses und ein paar Worten zu euch selbst an redaktion@kritisch-lesen.de oder an eines der Redaktionsmitglieder.

Wir entscheiden nach Eingang der Vorschläge, welche Rezensionen wir gerne in der Ausgabe dabei hätten – und melden uns dann bei euch. Der Einsendeschluss der fertigen Rezensionen ist der 10.11.2023.

Literaturvorschläge

Laila Abdul-Rahman et al. 2023: Gewalt im Amt – Übermäßige polizeiliche Gewaltanwendung und ihre Aufarbeitung. Campus Verlag, Wiesbaden.

Hannah Arendt 1975: Macht und Gewalt. Piper Verlag, München.

Rafael Behr 2008: Cop Culture – Der Alltag des Gewaltmonopols – Männlichkeit, Handlungsmuster und Kultur in der Polizei. Springer, Berlin.

John Brewer, John Styles 1980: An Ungovernable People –The English and their law in the Seventeenth and Eighteenth Centuries. Hutchinson, London.

Heiner Busch, Albrecht Funk, Udo Kauß 1988: Die Polizei in der Bundesrepublik. Campus Verlag, Frankfurt am Main.

Carsten Dams, Michael Stolle 2009: Die Gestapo – Herrschaft und Terror im Dritten Reich, C.H. Beck Verlag, München.

Benjamin Derin, Tobias Singelnstein 2022: Die Polizei – Helfer, Gegner, Staatsgewalt, Ullstein Verlag Berlin.

Albrecht Goeschel 1977: Gesellschaftsordnung, Wirtschaftsweise, Raumgliederung und Staatsgewalt – Anmerkungen zur Entwicklungsgeschichte der Polizei in Deutschland. Repro im Auftrag von LabourNet e.V. 2013.

Daniela Hunold, Andreas Ruch (Hrsg.) 2020: Polizeiarbeit zwischen Praxishandeln und Rechtsordnung – Empirische Polizeiforschungen zur polizeipraktischen Ausgestaltung des Rechts. VS Verlag, Wiesbaden.

Daniela Hunold, Tobias Singelnstein (Hrsg.) 2022: Rassismus in der Polizei. Eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme. VS Verlag, Wiesbaden.

Frank Kawelovski 2009: „Achtung! Hier Gruga an alle!“ – Die Geschichte der Essener Polizei. Eigenverlag, Mühlheim.

Aiko Kempen 2021: Auf dem rechten Weg? – Rassisten und Neonazis in der deutschen Polizei. Europa Verlag, München.

Peter Leßmann-Faust 2012: Die preußische Schutzpolizei in der Weimarer Republik – Streifendienst und Straßenkampf. Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt am Main.

Daniel Loick 2018: Kritik der Polizei. Campus Verlag, Frankfurt am Main.

Alf Lüdtke (Hrsg.) 1992: „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“ – Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.

Nadja Maurer, Annabelle Möhnle, Nils Zurawski (Hrsg.) 2023: Kritische Polizeiforschung – Reflexionen, Dilemmata und Erfahrungen aus der Praxis. Transcript Verlag, Bielefeld.

Thomas Muller 2018: Darktown. Dumont Verlag, Köln.

Stefan Naas 2003: Die Entstehung des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes von 1931. Mohr Siebek Verlag, Tübingen.

Wolf-Dieter Narr 1977: Wir Bürger als Sicherheitsrisiko – Berufsverbot und Lauschangriff. Rowoht Verlag, Reinbek.

Herbert Reinke (Hrsg.) 1993: „…nur für die Sicherheit da…“? – Zur Geschichte der Polizei im 19. und 20. Jahrhundert. Campus, Frankfurt am Main.

Andreas Schwegel 2005: Der Polizeibegriff im NS-Staat, Mohr Siebek Verlag, Tübingen.

Alissa Starodub 2023: Ohne Polizei/Gewalt. Mandelbaum Verlag, Wien.

Jackie Wang 2018: Carceral Capitalism. Mitpress, Cambridge.

Neil Websdale 2001: Policing the Poor – From Slave Plantation to Public Housing. ‎ Northeastern University Press, Boston.

Jakob Zollmann 2010: Koloniale Herrschaft und ihre Grenzen – Die Kolonialpolizei in Deutsch-Südwestafrika 1894–1915. Vandenhoeck | Ruprecht Verlage, Göttingen.

Thomas Köhler, Jürgen Matthäus et al 2023: Polizei und Holocaust. Eine Generation nach Christopher Brownings Ordinary Men. Brill | Schöningh, Paderborn.

Bernd Belina 2006: Raum, Überwachung, Kontrolle. Vom Staatlichen Zugriff auf städtische Bevölkerung. Westfälisches Dampfboot, Münster.

Angela Davis 2003: Are Prisons Obsolete? Seven Stories Press, New York.