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Wir suchen wieder Rezensent:innen!
Ausgabe #67: Das ist Ausbeutung!

Fair produzieren: zu menschlichen Arbeitsbedingungen, mit angemessener Vergütung. So lauten liberale Forderungen. Das politische Anliegen beruht dabei auf der Annahme, dass nur Menschen ausgebeutet werden, die einen unzureichenden Lohn erhalten, unter menschenunwürdigen, gewaltförmigen Bedingungen arbeiten oder in unzulässige Abhängigkeitsverhältnisse gezwungen werden. Ausbeutung steht hier für eine Abweichung, die es – mit Blick auf ihre krassesten Auswüchse, wie Sweatshops oder moderne Sklaverei – vorrangig an den Werkbänken des globalen Südens oder auf den Baustellen Katars zu bekämpfen gilt. Aber bereits Karl Marx machte einen weitreichenderen Ausbeutungsbegriffs stark: Ausbeutung sei mitnichten als eine Ausnahme zu begreifen, sondern als Normalzustand der kapitalistischen Produktion. Marx-Leser:innen wissen: Arbeiter:innen produzieren mehr Wert, als ihnen von den Kapitalist:innen als Lohn für die Verausgabung ihrer Arbeitskraft ausgezahlt wird. Dieses Plus, das den Arbeiter:innen vorenthalten bleibt, streichen die Kapitalist:innen als sogenannten Mehrwert ein. Der Zwangscharakter jeder Form kapitalistischer Arbeit steht für Marx daher außer Frage. Jenseits aller moralischer Empörung und Regulierungspostulate brauchen wir also ein Verständnis von Ausbeutung, dass zeigt, dass die kapitalistische Produktionsweise keine „freie“ Arbeit zulässt: Lohnarbeit im Kapitalismus ist strukturell betrachtet immer Lohnsklaverei.

Die gesamte Geschichte des Kapitalismus ist eine Geschichte der Ausbeutung. Er ist daher ein zentraler Begriff linker Theorie und Praxis. Einerseits, um den Kapitalismus und seine Entwicklungsdynamik auf theoretischer Ebene zu verstehen; andererseits, um auf praktischer Ebene über Mittel und Wege seiner Überwindung diskutieren zu können. Denn: Will man Ausbeutung abschaffen, muss man den Kapitalismus überwinden.

Die verschiedenen Dimensionen der Ausbeutung müssen dabei notwendigerweise global gedacht werden: Von der Ausbeutung von Menschen durch Menschen hin zur (neo-)kolonialen Ausbeutung globaler Peripherien durch Staaten und Unternehmen bis hin zur Naturausbeutung, welche uns gegenwärtig immer näher an den Rand des Klimakollapses bringt. Auch nach dem formalen Ende von Kolonialherrschaften wurden die kolonialen und ausbeuterischen Infrastrukturen nicht aufgebrochen und wirken bis heute fort. Was gemeinhin als Integration in den Weltmarkt bezeichnet wird, erweist sich für viele vormals Kolonisierte als Selbstbedienungsladen für ehemalige Kolonialmächte. In Ländern des globalen Südens reproduzieren sich dabei zudem ausbeuterische Dynamiken und führen beispielsweise zur Unterschichtung der Arbeiter:innenklasse, etwa, indem immer noch billigere Arbeitskräfte ins Land geholt werden.

Die jüngsten geopolitischen Verschiebungen von Machtzentren wirken sich auch als Brüche in den etablierten Abhängigkeitsverhältnissen aus. Für die einen verbinden sich damit Hoffnungen auf ein Ende der Ausbeutung, während die anderen sich daran machen, ihre Kapitalverwertung den neuen Verhältnissen anzupassen. Werden für viele wirtschaftliche Bereiche noch unterbezahlte Arbeiter:innen aus Nachbar- und Drittstaaten angeheuert, so errichtet man inzwischen Datenfarm-Fabriken in Refugee-Camps. Das kann man sich dann sogar als „Entwicklungshilfe“ auf die Fahne schreiben. Und in ihrer digitalen Erscheinung kann die Ausbeutung inzwischen sogar auf geografische Nähe verzichten. Datenbanken lassen sich etwa auch gänzlich remote füttern.

Doch solange es Ausbeutung von Menschen gibt, solange formiert sich auch Widerstand dagegen. Wir wollen nicht nur den Begriff der Ausbeutung in seiner Vielschichtigkeit und in kolonialen Kontinuitäten betrachten, sondern auch die Kontinuitäten des Kampfes. Wir fragen: Durch welche Ideologien und materiellen Bedingungen wird es beispielsweise möglich, das Arbeitsvermögen bestimmter Gruppen von Arbeiter:innen (z.B. weibliche oder migrantische Arbeitskräfte) gegenüber anderen abzuwerten und welche Spaltungsdynamiken in der Arbeiter:innenklasse kann dies nach sich ziehen? Inwiefern werden diese Kämpfe als Klassenkämpfe ausgetragen und unter welchen Umständen ändern sie ihren Charakter? Und auch: Aus welchen Kämpfen der Vergangenheit lassen sich Strategien gegen die Ausbeutung von heute entwickeln?

Es geht in unserer April 2023-Ausgabe um Kontinuitäten ebenso wie neue Gestalten der Ausbeutung – seid ihr dabei? Wir suchen Menschen, die Bücher, Broschüren, Sammelbände und Literatur zum Thema für Menschen jeden Alters besprechen möchten. Es sind sowohl Rezensionen aktueller und älterer Publikationen willkommen als auch Hinweise für interessante Publikationen, die in unserer Liste fehlen! Einsendeschluss für eure Vorschläge zum Schwerpunkt ist der 16. Dezember 2022.

Zudem suchen wir jederzeit Rezensent:innen für aktuelle Neuerscheinungen in anderen Themengebieten. Auch Romane und Kinderbücher sind immer gern gesehen! Insbesondere möchten wir FLINTA*s ermutigen, uns Rezensionen anzubieten. Wenn ihr Interesse oder weitere Ideen habt, dann schickt eure Vorschläge bitte mit einer kurzen Begründung eures Interesses und ein paar Worten zu euch selbst an redaktion@kritisch-lesen.de oder an eines der Redaktionsmitglieder.

Wir entscheiden nach Eingang der Vorschläge, welche Rezensionen wir gerne in der Ausgabe dabei hätten – und melden uns dann bei euch. Der Einsendeschluss der fertigen Rezensionen ist der 30. Januar 2023.

Literaturvorschläge

Moritz Altenried / Julia Dück / Mira Wallis (Hg.) 2021: Plattformkapitalismus und die Krise der sozialen Reproduktion. Westfälisches Dampfboot, Münster.

Christoph Bartmann 2016. Die Rückkehr der Diener. Das neue Bürgertum und sein Personal. Carl Hanser Verlag, München.

Kathrin Birner / Stefan Dietl 2021: Die modernen Wanderarbeiter*innen. Arbeitsmigrant *innen im Kampf um ihre Rechte. Unrast Verlag, Münster.

Jessica Bruder 2019: Nomaden der Arbeit. Überleben in den USA im 21. Jahrhundert. Blessing Verlag, München.

Johannes Caspar 2023: Wir Datensklaven. Wege aus der digitalen Ausbeutung. Manifest für mehr Freiheits- und Gleichheitsrechte. Wir wir eine demokratische Digitalisierung und informationelle Integrität erreichen können. Econ-Verlag, Berlin.

Frederick Cooper 2012: Kolonialismus denken. Konzepte und Theorien in kritischer Perspektive. Campus Verlag, Frankfurt.

Barabara Ehrenreich, Arlie Russel Hochschild (Hg.) 2004: Global Woman. Nannies, Maids and Sex Workers in the New Economy. Metropolitan Books / Holt and Company, New York.

Karin Fischer, Cornelia Staritz, Christian Reiner (Hg.) 2021: Globale Warenketten und ungleiche Entwicklung. Arbeit, Kapital, Konsum, Natur. mandelbaum verlag, Wien.

David Graeber 2022 [zuerst 2018]: Bullshitjobs. Vom wahren Sinn der Arbeit. Klett-Cotta, Stuttgart.

Tine Haubner 2017: Die Ausbeutung der sorgenden Gemeinschaft. Laienpflege in Deutschland. Campus Verlag, Frankfurt.

isw – Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V. 2022: report 131. Klima-Imperialismus. Planetarische Ausbeutung und Neo-Kolonialismus. Beiträge von Ulrich Brand, Kathrin Hartmann und Kerem Schamberger.

Joseph Ponthus 2021: Am laufenden Band. Aufzeichnungen aus der Fabrik. Matthes & Seitz Berlin.

Janina Puder 2022: Akkumulation – Überausbeutung – Migration. Arbeit im malaysischen Palmöl-Industriellen-Komplex. Campus Verlag, Frankfurt/New York.

Eleonora Roldán Mendívil / Bafta Sarbo (Hg.) 2022: Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassimus. Dietz Verlag, Berlin.

Ralf Ruckus (Hg.) 2013: iSlaves. Ausbeutung und Widerstand in Chinas Foxconn-Fabriken. Mandelbaum Verlag, Wien.

Upton Sinclair 2014: Der Dschungel. Unionsverlag, Zürich.

John Smith 2022: Imperialism in the Twenty-First Century. Globalization, Super-Exploitation, and Capitalism’s Final Crisis. Monthly Review Press, New York.

Wildcat (Hg.) 1989: Midnight Notes Collective: Arbeit, Entropie, Apokalypse. TheKla 12.