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Wir suchen wieder Rezensent*innen
Ausgabe #66: Erinnern von unten

Alle paar Wochen, so scheint es, erleben wir in Deutschland hitzige Diskussionen über Rassismus, über Antisemitismus sowie die Folgen und Kontinuitäten kolonialer bzw. imperialer Herrschaft. Ein jüngstes Beispiel: Auf der Documenta 15 in Kassel stellte das indonesische Künstler*innenkollektiv ruangrupa ein Kunstwerk des indonesischen Kollektivs Taring Padi aus, indem die Schrecken, aber auch die internationalen Verknüpfungen der indonesischen Militärdiktatur aufgearbeitet werden. Auf dem Banner, so wurde wochenlang landauf-landab diskutiert, hantierte das Kollektiv dabei mit antisemitischen Bildelementen. Ebenso musste sich der palästinensische Künstler Mohammed al-Hawajri dem Antisemitismusvorwurf für sein Werk Guernica Gaza stellen. Beides Werke, die auf künstlerischer Ebene Erinnerungspolitik verhandeln.

Ohne tiefer auf die Verläufe der Debatten einzugehen (hierzu gibt es sehr detaillierte Veröffentlichungen der Kunstschaffenden selbst und weiterer kritischer Beobachter*innen), zeigt sich daran, wie eingespielt öffentliche Empörungen in Deutschland verlaufen. Und damit einher geht meist auch die Frage, wer, in welcher Form und an was erinnern darf. Der liberale und der konservative Mainstream ist sich ganz grundlegend einig über die Erinnerungskultur – so sehr, dass es Teil der Staatsräson ist.

Dieses Grundverständnis ist gefährlich. Eike Geisel brachte es mit seinem bitteren Bonmot der „Wiedergutwerdung der Deutschen“ auf den Punkt: Endlich kann man wieder ruhigen Gewissens Deutsche*r sein, schließlich habe man aus der Geschichte gelernt und weiß nun, wie man es besser macht. Es besteht keine Notwendigkeit mehr, diesen Konsens zu hinterfragen. Diese bundesdeutsche Mainstream-Erinnerungskultur hat vor allem die Beruhigung der Täterperspektive zum Ziel. Erinnerungspolitik wird als Zustand verstanden und nicht als – langwieriger, schmerzhafter, widersprüchlicher, empowernder – Prozess.

Zudem sind Erinnerungspolitiken oft begrenzt auf die Erzählungen hegemonialer Kräfte. Wie schwer der Kampf ums Erinnern ist, zeigt sich beispielsweise beim Gedenken an Opfer rechter Gewalt. Dieser Kampf muss von den Angehörigen und politischen Initiativen immer und immer wieder geführt werden; auch, weil die prägenden medialen Diskurse oft um die Täter und nicht um die Opfer kreisen. Ausnahmen gibt es dennoch: So konnte die Initiative 19. Februar, die nach dem rassistischen und rechtsextremen Anschlag in Hanau gegründet wurde, mit ihrer Kampagne #saytheirnames eine notwendige und lange überfällige Form des Erinnerns einfordern: Eine, die sich der Erzählung ‚von oben‘ widersetzt, die Betroffenen und Opfer in den Fokus rückt und die öffentliche Debatte auf die politischen Forderungen der Angehörigen lenkt.

Erinnern ist eine politische Praxis, die als eine Grundlage und eine Form politischer Kämpfe verstanden werden muss. Es geht dabei nicht um Vergangenheitsbewältigung, sondern um einen Umgang mit der Zukunft. Es geht um Kämpfe, die sich ergänzen und überlagern, die aber nicht gegeneinander ausgestochen werden dürfen. Gerade das Erinnern von unten, wie etwa Erinnerungen an rechte und rassistische Gewalt, an minoritäre Solidaritäten und antifaschistische Kämpfe, Erinnerungen an internationalistische Konzepte wie den Pan-Afrikanismus, Erinnerungen aus der Diaspora oder Süd-Süd-Erinnerungen ermöglichen politische Zukunftsperspektiven und Ermächtigungsstrategien, die sich nicht auf vereinfachende Identitätskonzepte oder nationalistische Framings reduzieren lassen. Wie verhält sich also das individuelle Erinnern zum kollektiven? Welche Geschichten werden als wertvoll, als erinnerungswürdig empfunden? Wie sieht ein linkes Erinnern aus, dass an Verteilungs- und Klassenfragen geknüpft ist? Welche utopischen Potenziale birgt das Erinnern?

Diesen Fragen wollen wir mit euch nachgehen – seid ihr dabei? Für die Januar 2023-Ausgabe von kritisch-lesen.de suchen wir Menschen, die Bücher, Broschüren, Sammelbände und Literatur zum Thema für Menschen jeden Alters besprechen möchten. Es sind sowohl Rezensionen aktueller und älterer Publikationen willkommen als auch Hinweise für interessante Publikationen, die in unserer Liste fehlen! Einsendeschluss für eure Vorschläge zum Schwerpunkt ist der 23. September 2022.

Zudem suchen wir jederzeit Rezensent*innen für aktuelle Neuerscheinungen in anderen Themengebieten. Auch Romane und Kinderbücher sind immer gern gesehen! Insbesondere möchten wir FLINTAs ermutigen, uns Rezensionen anzubieten. Wenn ihr Interesse oder weitere Ideen habt, dann schickt eure Vorschläge bitte mit einer kurzen Begründung eures Interesses und ein paar Worten zu euch selbst an redaktion@kritisch-lesen.de oder an eines der Redaktionsmitglieder.

Wir entscheiden nach Eingang der Vorschläge, welche Rezensionen wir gerne in der Ausgabe hätten und melden uns dann bei euch. Der Einsendeschluss der fertigen Rezensionen ist der 7. November 2022.

Literaturvorschläge

Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit – Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München: C.H. Beck 2006.

Max Czollek: Desintegriert euch! München: Carl Hanser Verlag 2018.

Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Wiesbaden: Springer-VS 2017.

Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer 1991.

Abbas Khider: Der Erinnerungsfälscher. München: Carl Hanser Verlag 2022.

Lydia Lierke, Massimo Perinelli (Hrsg.): Erinnern stören – Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive. Berlin: Verbrecher 2020.

Matthias N. Lorenz, Tanja Thomas, Fabian Virchow: Rechte Gewalt erzählen – Doing Memory in Literatur, Theater und Film. Wiesbaden: Springer-VS 2022.

Onur Suzan Nobrega, Matthias Quent, Jonas Zipf (Hrsg.) Rassismus Macht Vergessen. Bielefeld: transcript 2021.

Valentina Pisanty: The Guardians of Memory and the Return of the Xenophobic Right. New York: Centro Primo Levi (2021)

Walter Rodney: The Russian Revolution – A view from the third world. New York/London: Verso 2018.

Michael Rothberg, Multidirektionale Erinnerung: Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung. Berlin: Metropol Verlag 2021.

Philipp Sarasin: 1977 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart. Berlin: Suhrkamp 2021.

David Scott: Omens of Adversity – Tragedy, Time, Memory, Justice. Durham: DukePress 2014. Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? – Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Turia+Kant 2008.

Anne-Kathleen Tillack-Graf: Erinnerungspolitik der DDR, dargestellt an der Berichterstattung der Tageszeitung „Neues Deutschland“ über die Nationalen Mahn- und Gedenkstätten Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen. Bern: Peter Lang Verlag 2012.

Barbara Törnquist-Plewa, Niklas Bernsand und Marco La Rosa (Hrsg.): In search of transcultural memory in Europe. 2017.

Paul Veyne: Geschichtsschreibung und was sie nicht ist. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990.

Stefan Vogt: Subalterne Positionierungen – Der deutsche Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland 1890-1933, Göttingen: Wallstein Verlag 2016.

Jenny Wüstenberg: Zivilgesellschaft und Erinnerungspolitik in Deutschland seit 1945. Münster: LIT Verlag 2020.

Jürgen Zimmerer (Hrsg.): Kein Platz an der Sonne – Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Frankfurt a.M.: Campus 2013.

Texte nach Hanau. Köln: stolzeaugen.books 2021.