Wir suchen wieder Rezensent*innen Ausgabe #65: Dating im Neoliberalismus
Die sexuelle Liberalisierung scheint endlich für alle Geschlechter vollzogen: Frauen* müssen zuerst schreiben, sonst löscht sich das Match. Das ist also Feminismus! Auf Dating-Plattformen wie Tinder und Co wird nach links und rechts geswiped, was das Zeug hält; die Algorithmen finden den perfekten Fit und es bleibt allein die Qual der Wahl. Endlich überwunden scheinen auch die Zeiten der heteronormativen Beziehungszwänge. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Sex überall und jederzeit verfügbar zu sein hat und scheinbar alle dies auch lustvoll ausleben.
Gleichzeitig sind neue Erwartungshaltungen entstanden. Sie verändern unser Verständnis zwischenmenschlicher Beziehungen und lassen neue Fragen aufkommen: Will ich eine Beziehung führen? In welcher Form und mit wie vielen? Kennenlernen im Sandkasten, beim Bäcker um die Ecke oder online? Freundschaftplus, One-Night-Stand oder queere Genoss:innenschaft? Die wahre Liebe, das perfekte Match finden – oder vielleicht doch eher alles-kann-nichts-muss? Die Möglichkeiten, sich selbst für ein oder mehrere (Beziehungs-)Modelle zu entscheiden, waren noch nie so vielfältig und zahlreich – ebenso wenig wie der Druck, sie zu vermarkten. Der Neoliberalismus mit seiner bis ins Letzte greifenden Ökonomisierung hat sich das Feld schon längst von vorne bis hinten einverleibt: DatingApps, Ratgeber, Fernseh-Shows, Gadgets und Gimmicks, soweit das Auge reicht. So herrscht im Zuge der Möglichkeiten auch der Imperativ, die eigene (sexy) Identität hervorzuheben und diese zu Markte zu tragen. Was als Liberalisierung daherkommt, ist daher oftmals gespickt mit Widersprüchen zwischen konservativem Verharren und ökonomischer Vereinnahmung. Denn über allem spannt sich die Verwertungslogik des kapitalistischen Systems: Die Möglichkeiten, sich vom gewaltsamen Partner zu trennen, nach eigenen Vorstellungen Kinder groß zu ziehen, mit und ohne Be_hinderung zu daten oder dem Mythos Work-Life-Balance hinterherzujagen: All das ist materiellen Zwängen unterzogen. Sie formen, wie wir Beziehungen leben und auch imaginieren können – und mit wem.
Dass die Bereiche Gender, Liebe und Sexualität nur scheinbar private sind, ist spätestens seit der 68er-Revolte klar: Zwischenmenschliches ist so politisch, wie es nur geht. In den letzten Jahrzehnten haben zahlreiche politische Kämpfe um Sexualität und Körperlichkeit das Feld möglicher Identitäts- und Begehrensangebote glücklicherweise vergrößert. Die Kämpfe von Feminist*innen, Transgenders* oder Queers* haben wichtige Freiheiten errungen, trotz massiver und anhaltender Widerstände.
Es geht in unserer Herbst-Ausgabe um konservierte Überreste scheinbar überkommener Beziehungsmodelle, um unsichtbare Selbstverständlichkeiten, um neue Formen von Gemeinsamkeit(en). Wir fragen uns mit Blick auf die Paradoxien, die wir im Kontext von Sex, Beziehungen, Körperlichkeit wahrnehmen: Wie steht es in unserer Gesellschaft um das Kennenlernen von Anderen? Welche Möglichkeiten von Begegnung(en) im Neoliberalismus gibt es und welche Beziehungsweisen können daraus entstehen? Wer darf mitspielen beim Dating-Reigen, wer bleibt außen vor? Welche Rolle spielen Patriarchat, Geschlecht, Herkunft, Klasse und Körper? Welche Vorstellungen von Sexualität, Körperlichkeit, Nähe, Emotionen, von Zugängen und Abhängigkeiten haben wir eigentlich, nicht als Einzelwesen, sondern als Gesellschaft?
Während der heißen Sommertage wollen wir diesen Fragen mit euch nachgehen – seid ihr dabei? Für die Oktober 2022-Ausgabe von kritisch-lesen.de suchen wir Menschen, die Bücher, Broschüren, Sammelbände und Literatur zum Thema für Menschen jeden Alters besprechen möchten. Es sind sowohl Rezensionen aktueller und älterer Publikationen willkommen als auch Hinweise für interessante Publikationen, die in unserer Liste fehlen! Einsendeschluss für eure Vorschläge zum Schwerpunkt ist der 21. Juni 2022.
Zudem suchen wir jederzeit Rezensent*innen für aktuelle Neuerscheinungen in anderen Themengebieten. Auch Romane und Kinderbücher sind immer gern gesehen! Insbesondere möchten wir FLINTAs ermutigen, uns Rezensionen anzubieten. Wenn ihr Interesse oder weitere Ideen habt, dann schickt eure Vorschläge bitte mit einer kurzen Begründung eures Interesses und ein paar Worten zu euch selbst an redaktion@kritisch-lesen.de oder an eines der Redaktionsmitglieder. Wir entscheiden nach Eingang der Vorschläge, welche Rezensionen wir gerne in der Ausgabe hätten und melden uns dann bei euch. Der Einsendeschluss der fertigen Rezensionen ist der 8. August 2022.
Literaturvorschläge
bell hooks: Alles über Liebe – Neue Sichtweisen, Hamburg: HarperCollins 2021.
Candice Carty-Williams: Queenie, Berlin: Aufbau Verlag 2020.
Julia Dombrowski: Die Suche nach der Liebe im Netz – Eine Ethnographie des Online-Datings, Bielefeld: transcript 2011.
Barbara Eder, Felix Wemheuer: Die Linke und der Sex – Klassische Texte zur wichtigsten Frage. Wien: Promedia 2011.
Benno Gammerl: Anders fühlen – Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik – Eine Emotionsgeschichte, Berlin: Hanser Verlag 2021.
Eva Illouz: Warum Liebe endet – Eine Soziologie negativer Beziehungen, Berlin: Suhrkamp 2018.
Şeyda Kurt: Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist, Hamburg: HarperCollins 2021.
Michael Nast: Generation Beziehungsunfähig, Hamburg: Edel 2016.
Lauren Oyler: Fake Account, Berlin: Berin Verlag, 2022.
Michel Raab, Cornelia Schadler: Polyfantastisch? – Nichtmonogamie als emanzipatorische Praxis, Berlin: Unrast Verlag 2020.
Martin Scherer: Hingabe – Versuch über die Verschwendung, Springe: zu Klampen Verlag 2021.
Amia Srinivasan: Das Recht auf Sex – Feminismus im 21. Jahrhundert, Stuttgart: Klett-Cotta 2022.
Liv Strömquist: Der Ursprung der Liebe, Berlin: Avant Verlag, Berlin 2018.
Anne Waldschmidt, Hanjo Berressem, Moritz Ingwersen: Culture – Theory – Disability. Encounters between Disability Studies and Cultural Studies, Bielefeld: transcript Verlag 2017.
Gunda Windmüller: Weiblich, ledig, glücklich - sucht nicht – Eine Streitschrift, Hamburg: Rowohlt Verlag 2019.