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Wir suchen wieder Rezensent*innen
Ausgabe #61: NSU-Komplex – 10 Jahre nach der "Selbstenttarnung"

Vor beinahe zehn Jahren enttarnte sich der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) selbst. Am 4. November 2011 wurden die beiden Neonazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos tot in einem brennenden Wohnmobil in Eisenach entdeckt. Beate Zschäpe stellte sich kurz darauf der Polizei. Jedoch nicht, bevor sie ein Bekennervideo versandt hatte.

In den Jahren 2000 bis 2007 ermordete der NSU zehn Menschen: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Jahrelang hatten die Behörden im Umfeld der Betroffenen nach den Täter_innen gesucht und dabei Opfer und Angehörige kriminalisiert.

Die Selbstenttarnung des NSU wurde – zumindest vorläufig – zum Kristallisationspunkt des neuen deutschen Faschismus. Der NSU-Komplex hat nicht nur den strukturellen Rassismus deutscher Behörden offenbart, der noch von den Leitmedien und der Boulevard-Presse kräftig angeheizt wurde, sondern deutlich gemacht, wie realitätsfern die Rede der drei versprengten Einzeltäter_innen ist. Die Ermittlungsbehörden stellten den NSU verharmlosend und grundfalsch als ein rechtsradikales Trio dar, obwohl es sich hier nie um eine isolierte Terrorzelle handelte, die autonome Entscheidungen traf. Ein Netzwerk an Unterstützer_innen organisierte Waffen, mietete Wohnungen an, besorgte Papiere und Unterlagen, kümmerte sich um finanzielle Unterstützung und kundschaftete das Umfeld der Opfer aus. Dieses äußerst aktive und brandgefährliche Netzwerk der extremen Rechten existiert seit Jahrzehnten und erstreckt sich international über die deutschen Landesgrenzen hinweg. Auch der Verfassungsschutz spielt dabei eine unrühmliche Rolle und zeigte sich einmal mehr als Teil des Problems. Über Jahre hinweg unterstützte er durch den Einsatz von V-Leuten den Aufbau dieser rechten Netzwerke und verschaffte somit auch dem NSU die Basis für dessen Morde. Nicht nur diese Verstrickungen der deutschen Behörden, sondern auch die Verhandlungen und Urteile des NSU-Prozesses in München zeigten wiederholt, dass konsequente Aufarbeitung rechtsextremer Taten in Deutschland nicht gewollt ist.

Noch während die sogenannte Mitte aufatmete, da es so schien, als hätte die Mordserie nun endlich ihr Ende gefunden, verübten Rechte in den Folgejahren weitere Terroranschläge. Unter anderem 2016 im Münchner OEZ, 2018 in Halle an der Saale und 2020 in Hanau. In der Berichterstattung wiederholen sich hier rassistische Muster, von abwertenden Vergleichen über eine Formulierung der „Fremdheit“ der Opfer. Und jedes Mal sprechen Politiker_innen und die bürgerliche Presse von einer neuen Qualität der Gewalt, ohne sehen zu wollen, dass es sich hier um ein strukturelles Problem handelt. Immer wieder werden rechte Netzwerke in der Polizei und der Bundeswehr aufgedeckt. Doch viel zu oft fällt diese investigative Aufgabe antifaschistischen Aktivist_innen oder Journalist_innenkollektiven zu.

Wir fragen: Was hat sich seit der Selbstenttarnung des NSU vor zehn Jahren bis heute getan, auf politischer, institutioneller und aktivistischer Seite? Was muss geschehen, um eine wirkliche Aufarbeitung der vielen Morde zu bewirken? Welche Konsequenzen hat die Mitverantwortung des Verfassungsschutzes und der Polizei nach sich gezogen? Wie können wir gegen die Kontinuitäten rechter Netzwerke angehen?

Für die Oktober-Ausgabe von kritisch-lesen.de suchen wir Menschen, die Bücher, Broschüren, Sammelbände und Literatur zum Thema für Menschen jeden Alters besprechen möchten. Es sind sowohl Rezensionen aktueller und älterer Publikationen willkommen als auch Hinweise für interessante Publikationen, die in unserer Liste fehlen!

Zudem suchen wir Rezensent_innen für aktuelle Neuerscheinungen in anderen Themengebieten. Auch Romane und Kinderbücher sind immer gern gesehen! Wenn ihr Interesse oder weitere Ideen habt, dann schickt eure Vorschläge bitte mit einer kurzen Begründung eures Interesses und ein paar Worten zu euch selbst bis zum 10.07.2021 an redaktion@kritisch-lesen.de oder an eines der Redaktionsmitglieder.

Wir entscheiden nach Eingang der Vorschläge, welche Rezensionen wir gerne in der Ausgabe hätten und melden uns dann bei euch. Der Einsendeschluss der fertigen Rezensionen ist der 13. August 2021.

Literaturvorschläge

Stefan Aust, Dirk Laabs: Heimatschutz – Der Staat und die Mordserie des NSU. München: Pantheon Verlag 2014.

Kemal Bozay, Bahar Aslan, Orhan Mangitay, Funda Özfirat: Die haben gedacht, wir waren das – MigrantInnen über rechten Terror und Rassismus. Köln: PapyRossa 2016.

Mehmet Daimagüler: Empörung reicht nicht! Unser Staat hat versagt. Jetzt sind wir dran. Mein Plädoyer im NSU-Prozess. Köln – Lübbe 2017.

Andreas Förster, Thomas Moser, Thumilan Selvakumaran: Ende der Aufklärung – Die offene Wunde NSU. Tübingen: Klöpfer & Meyer 2018.

Christian Fuchs, John Goetz: Die Zelle – Rechter Terror in Deutschland. Berlin: Rowohlt 2012.

Sebastian Friedrich, Regina Wamper, Jens Zimmermann (Hrsg.): Der NSU in bester Gesellschaft. Zwischen Neonazismus, Rassismus und Staat. Münster: Unrast Verlag 2015.

Barbara John (Hrsg.): Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen – Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet. Freiburg im Breisgau: Herder 2014.

Sebastian Jung: Winzerla – Kunst als Spurensuche im Schatten des NSU. Bielefeld/Berlin: Kerber 2015.

Heike Kleffner, Anna Spangenberg (Hrsg.): Generation Hoyerswerda – Das Netzwerk militanter Neonazis in Brandenburg. Berlin: Be Bra Verlag 2016.

Matthias Quent: Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät. Weinheim: Beltz Juventa 2019.

Annette Ramelsberger, Tanjev Schultz, Rainer Stadler, Wiebke Ramm: Der NSU Prozess – Das Protokoll. München: Verlag Antje Kunstmann 2018.

Tanjev Schultz: NSU – Der Terror von rechts und das Versagen des Staates. München: Droemer Verlag 2018.

Semiya Simsek: Schmerzliche Heimat – Deutschland und der Mord an meinem Vater. Berlin: Rowohlt 2013.

Dostluk Sineması (Hg.) (2014): Von Mauerfall bis Nagelbombe – Der NSU-Anschlag auf die Kölner Keupstraße im Kontext der Pogrome und Anschläge der neunziger Jahre. Berlin: Amadeu-Antonio-Stiftung 2014.

Antonia von der Behrens (Hrsg.): Kein Schlusswort – Nazi-Terror, Sicherheitsbehörden, Unterstützernetzwerk. Plädoyers im NSU-Prozess. Hamburg: VSA-Verlag 2018.

Wolf Wetzel: Der NSU-VS-Komplex – Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund - wo hört der Staat auf? Münster: Unrast-Verlag 2015.

Wolf Wetzel: Der Rechtsstaat im Untergrund – Big Brother, der NSU-Komplex und die notwendige Illoyalität. Köln: PapyRossa 2015.