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Wir suchen wieder Rezensent:innen!
Ausgabe #59: Jugoslawien – 30 Jahre später

Der allgemeine Umgang mit der sozialistischen Vergangenheit Jugoslawiens ist geprägt von Verleugnung, Dämonisierung und Nostalgie. Das Land, das sich im Zweiten Weltkrieg selbst befreite, schlug in der Nachkriegszeit einen eigenen Weg ein: Es gründete die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien, ein blockfreies Sozialismusmodell in Abgrenzung zur benachbarten Sowjetunion. In den 1980er Jahren schwindet jedoch die Solidarität zwischen den Mitgliedern der Arbeiterselbstverwaltung zunehmend. Eine durch den Internationalen Währungsfonds vorangetriebene Austeritätspolitik samt implementierter Marktwirtschaft, die ungleiche Verteilung von Ressourcen und zunehmende Interessenspolitik der Eliten befördern betriebliche wie nationale Spaltungen, an denen Jugoslawien schließlich scheitert.

Abspaltungen von Slowenien, Kroatien und Mazedonien ab 1991 sind der Auftakt für einen jahrelangen unerbittlichen Krieg mit zahllosen Toten, der vor allem im multi-ethnischen Bosnien und Herzegowina geführt wird. Mit dem NATO-Bombardement von Serbien und dem Kosovo endet die Periode der Staatszerfallskriege 1999. Was folgt, ist die Umgestaltung der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Fundamente der einzelnen Republiken. Slowenien (2004) und Kroatien (2013) werden Teil der EU. Die soziale, wirtschaftliche und politische Lebenssituation der Menschen in den anderen Nachfolgestaaten Jugoslawiens spitzt sich unterdessen weiter zu: Privatisierung, Armut, hohe Arbeitslosigkeit, Resignation. Auch die nationalistische Mobilmachung und der Antiziganismus nehmen zu: Während sich die rechtliche und soziale Lage der Romnij:a verschlechtert, steigt die rassistische Gewalt gegen sie immer weiter an, auch vonseiten des Staates.

Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Serbien, Montenegro und der Kosovo (sowie der Nachbar Albanien) werden sukzessive ab 2014 als „Sichere Herkunftsländer“ geführt: Deportationen und Zwangsausreisen aus EU-Ländern sind seitdem an der Tagesordnung. Der „Westbalkan“ – also die Staaten, die noch nicht von der EU einverleibt wurden – gilt trotz Sicherheitssiegel bei vielen EU-Eliten als Peripherie mit zivilisatorischem Nachholbedarf. Das Macht- und „Arroganzgefälle“ (Tanja Petrović) bewegt sich dabei von Nordwest nach Südost, auch auf dem Gebiet des ehemaligen Staatenbunds selbst. Die Situation von Flüchtenden in den Staaten ist äußerst prekär und wird immer wieder von Willkür, Gewalt und sich verändernden rechtlichen Bedingungen geprägt. In den letzten Jahren sitzen dort zigtausende Menschen auf dem Weg nach Zentraleuropa fest, ohne Perspektive auf ein Weiter- oder Ankommen.

Um einem (Post-)Jugoslawien der Gegenwart näher zu kommen, müssen wir uns also mit dem historisch gewachsenen und gewaltvoll vorangetriebenen nationalistischen Revisionismus und wirkmächtigen antikommunistischen Narrativen auseinandersetzen, aber auch mit den Stolperfallen verklärender Jugo-Nostalgie. Wir fragen: Was lernen wir von diesem sozialistischen Staatenbund, der, „als Traum begann und mit Morden endete“ (AK 643)? Welche ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen haben das Ende Jugoslawiens und der nachfolgende Krieg bis heute? Wie steht es um die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Menschen, die dageblieben sind, die (auch gezwungenermaßen) zurückkehrten oder die irgendwo auf dem Balkan gestrandet sind? Wie steht es um die Einflussnahme von außen – durch EU-Maßnahmen, Währungsfonds, Investoren? Und nicht zuletzt: Welche linken Kämpfe werden im Blick zurück und nach vorne sichtbar, zwischen der Rolle der antifaschistischen Partisan:innen während des Zweiten Weltkriegs und aktuellen Arbeitsstreiks und Protestbewegungen?

Für die April 2021-Ausgabe von kritisch-lesen.de suchen wir Menschen, die Bücher, Broschüren, Sammelbände und Literatur zum Thema für Menschen jeden Alters besprechen möchten. Es sind sowohl Rezensionen aktueller und älterer Publikationen willkommen als auch Hinweise für interessante Publikationen, die in unserer Liste fehlen!

Zudem suchen wir Rezensent:innen für aktuelle Neuerscheinungen in anderen Themengebieten. Wenn ihr Interesse oder weitere Ideen habt, dann schickt eure Vorschläge bitte mit einer kurzen Begründung eures Interesses und ein paar Worten zu euch selbst bis zum 4. Januar 2021 an redaktion@kritisch-lesen.de oder an eines der Redaktionsmitglieder.

Wir entscheiden nach Eingang der Vorschläge, welche Rezensionen wir gerne in der Ausgabe hätten und melden uns dann bei euch. Der Einsendeschluss der fertigen Rezensionen ist der 20. Februar 2021.

Literaturvorschläge:

Georg Auernheimer: Wie Flüchtlinge gemacht werden. Köln: Papyrossa 2018.

Julija Bogoeva, Caroline Fetscher: Srebrenica. Ein Prozeß: Dokumente aus dem Verfahren gegen General Radislav Krstic. Berlin: Suhrkamp 2002.

Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. München: C.H. Beck 2010.

Matthias Fink: Srebrenica – Chronologie eines Völkermords oder Was geschah mit Mirnes Osmanovic. Hamburg: Hamburger Edition 2015.

Pascal Goeke. Transnationale Migrationen. Post-jugoslawische Biografien in der Weltgesellschaft. Bielefeld: transcript 2007.

Todor Kuljic: Umkämpfte Vergangenheiten – Die Kultur der Erinnerung im postjugoslawischen Raum. Berlin: Verbrecher 2010.

Michael G. Kraft (Hrsg.): Soziale Kämpfe in Ex-Jugoslawien. Wien: Mandelbaum 2013.

Tijana Matijevic: From Post-Yugoslavia to the Female Continent. A Feminist Reading of Post-Yugoslav Literature. Bielefeld: transcript 2020.

Jeton Neziraj, Timon Perabo: Sehnsucht im Koffer – Geschichten der Migration zwischen Kosovo und Deutschland. Berlin: be.bra 2013.

Tanja Petrović: Yuropa – Jugoslawisches Erbe und Zukunftsstrategien in postjugoslawischen Gesellschaften. Berlin: Verbrecher 2015.

Thomas Schmidinger: Kosovo – Geschichte und Gegenwart eines Parastaates. Wien: Bahoe 2019.

Sasa Stanisic: Herkunft. München: Luchterhand 2019.

Djordje Tomic, Roland Zschächner, Mara Puskarevic, Allegra Schneider(Hrsg.): Mythos Partizan. Münster: Unrast 2013.

Sonja Vogel: Turbofolk – Soundtrack zum Zerfall Jugoslawiens. Mainz: Ventil 2017.

Tanja Vuković: Der Bosnienkrieg von 1992 bis 1995 in perspektivischen Kriegsgeschichten. Marburg: Tectum 2013.

Najim Wali. Die Balkanroute. Berlin: Matthes und Seitz 2017.