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Widerlichkeiten und Widerstand

Buchautor_innen
Paul*A Helfritzsch
Buchtitel
Politisierte Gefühle
Buchuntertitel
Versuche über Ekel, Angst, Hass, Mordlust, Trotz und Demokratie
Wir müssen lernen, negative Gefühle zu politisieren: ein Plädoyer gegen die Trennung von Rationalität und Emotionalität.

Noch ein Buch über Gefühle und Politik? Nach der oft proklamierten Wende zum Affektiven in den Geisteswissenschaften stellt Paul*A Helfritzsch im Vorwort selbst die Frage: Was rechtfertigt ein solches Unterfangen? Und gibt prompt die Antwort: „Es braucht einen langen Atem und damit viele Stimmen, um die Dualität zurückzudrängen“ (S. 15). Die hier gemeinte Dualität ist der vermeintliche Gegensatz von Rationalität und Emotionalität, auf deren Etablierung sich patriarchale Systeme seit langem verstehen. Helfritzsch schreibt gegen diese Dualisierung an und reiht sich damit in eine Tradition intersektionaler feministischer und anti-rassistischer Autor*innen ein, von denen einige auch im Buch zu Wort kommen: Audre Lorde, Sara Ahmed, Achille Mbembe und Leslie Feinberg.

Zum langen Atem dieser Tradition beizutragen, ist allerdings nicht der einzige Legitimierungsfaktor des Buchs. Helfritzsch entwickelt in philosophisch-politisch engagierter Weise ein Plädoyer für die „Demokratisierung“ von Gefühlen – dem Demokratieverständnis Helfritzschs folgend ist damit eine Entwicklung hin zu einem „pluralen, wertschätzenden, kämpferisch auf Freiheit und Gleichheit bedachten“ (S. 244) Umgang mit politisierten Gefühlen gemeint. Helfritzsch verbindet innovativ und produktiv eine existenzialistische Lesart spezifischer Gefühle – Hass, Angst, Ekel, Scham, Wut, Zaudern, Verzweiflung, Trotz und Mordlust – mit Überlegungen zu ihrem konkreten politischen Potenzial. Aber zunächst zu der in diesem Kontext philosophischen Frage schlechthin: Was sind Gefühle?

Gefühle als Marker sozialer Strukturen

Helfritzsch bestimmt Gefühle und Emotionen – die Begriffe werden ausdrücklich synonym verwendet – als „die Form, die Art und Weise des widerfahrenen Erlebens der strukturierten Raum-Zeit in einer Situation“ (S. 31). Von Sara Ahmed übernimmt Helfritzsch die Metapher von Gefühlen als Fleisch der Zeit. Sie widerfahren situativ und subjektiv, aber sind gleichzeitig in historisch gewachsene Kontexte eingebettet und wir können an ihren Manifestationen etwas über bestehende soziale Verhältnisse ablesen. Verdeutlichen lässt sich das am Beispiel der Ruhe. Das Gefühl kühl-kontrollierter Ruhe ist klassischerweise männlich konnotiert und mit Rationalität verbunden. Es ist ein Gefühl der Abstraktion, welches Abstand und Unbeteiligtheit voraussetzt. Helfritzsch nimmt nun eine sozialkritische Situierung des Gefühls Ruhe vor. Ruhe empfinden zu können, erfordert die Sicherheit der fühlenden Person bzw. die Abwesenheit von Gefahr. Und wer kann es sich typischerweise leisten, sich ruhig zu fühlen? Nun, Menschen, die sich nicht in strukturell bedingten bedrohlichen Situationen wiederfinden, kurz: Menschen mit Privilegien. Ruhe ist davon ausgehend für Helfritzsch nicht in essentialistischer Weise verbunden mit Männlichkeit, sondern verweist auf die strukturellen Bedingungen ihrer Möglichkeit.

Politisierte Gefühle

Gefühle können somit strukturell situiert werden und ihre Analyse erhält dadurch politische Relevanz. Gefühle berühren und bewegen und bergen dadurch auch Mobilisierungspotenzial. Die verbindende Kraft besteht darin, dass sich mehrere Personen gemeinsam mit einem Gefühl identifizieren können. Eine geteilte Freude über das gute Wetter, aber auch so etwas wie die längerfristige Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen. Eine Politisierung liegt laut Helfritzsch dann vor, wenn sich die Personen zu einer Gruppe zusammenschließen und das geteilte Gefühl politisch gelenkt wird, das heißt, wenn es auf ein gemeinsames Ziel oder auf einen Grund gerichtet wird. Das Gefühl ist dann nicht mehr eine subjektive Reaktion auf eine konkrete Situation, sondern dient der Rechtfertigung einer politischen Position und motiviert politisches Handeln, zum Beispiel wenn das Gefühl der Machtlosigkeit in Anbetracht einer Ungerechtigkeit zum Anstoß für Widerständigkeit gemacht wird.

Diese Definition sagt noch nichts über die normative Qualität dieses Gebrauchs aus. Die kollektivierende Kraft der Emotionen kann auch auf gefährlichste Arten für Hetze und Propaganda missbraucht werden, Helfritzsch führt hier das Beispiel des antisemitisch belegten Ekels gegenüber jüdischen Menschen in der NS-Zeit an. Diese Gefahren dürfen nie vernachlässigt werden, dennoch gilt das Interesse Helfritzschs der Frage: Wie lässt sich die Politisierung produktiv, das heißt demokratisch, wenden? Dafür, so Helfritzsch, müssen die politisierten Gefühle selbst zum Thema gemacht werden.

Wenden wir uns dafür wieder dem Ekel zu: Wie bei allen Gefühlen, deren kritisches Potenzial Helfritzsch in den Blick nimmt, fällt am Ekel zunächst die Destruktivität auf. Ekel, so Helfritzsch, tritt dann auf, wenn wir etwas oder jemanden uns in intimer Weise als aufgezwungen erleben, etwa, wenn uns der Gestank verschimmelter Lebensmittel in die Nase steigt. Indem wir diese Nähe als illegitim beurteilen, versuchen wir, Distanz herzustellen. Wenn sich der Ekel auf Personen oder Personengruppen richtet, besteht in der Hinwendung zum Ekel für Helfritzsch ein kritisches Potential. Helfritzsch weist dem Ekel ein reflexives Potenzial zu und schlägt vor, uns am Ekel abzuarbeiten:

„Ekel zu erleben, sich dessen bewusst zu werden, welche Strukturen ihn bedingen, ihn nicht abzutun, sondern gerade das verhaftet Bleiben im Ekel, die Klebrigkeit, auszunutzen, um die Existenz dessen, wovor es eine*n ekelt, zu akzeptieren, sie nicht als illegitimen Widerspruch zu beurteilen.“ (S. 138)

So besteht die Abarbeitung am Ekel darin, das zugrundeliegende Verständnis von Normalität infrage zu stellen, denn die Abweichung von der Norm bietet die Grundlage dafür, dass eine Person oder Gruppe mit Ekel besetzt wird. Hier richtet sich Helfritzschs Fokus erneut auf die strukturelle Ebene, die Bedingungen der Möglichkeit politisierten Ekels.

„Will man also demokratisch mit diesem Ekel umgehen, hieße das, sich zu vergewissern, dass die Anderen und ihr Leben keinen illegitimen Anspruch auf Existenz stellen können, dass dieses Urteil niemals stimmen kann und dass Strukturen, die ein solches Urteil erlauben, nicht demokratisch sein können.“ (S. 150)

Welches problematische Verständnis von Normalität kursiert in einer Gesellschaft, in der sich nach wie vor politisierter Ekel auf diskriminierte Gruppen wie LGBTQIA+ richten kann? Es geht Helfritzsch darum, die Illegitimität nicht auf die sich Ekelnden umzukehren, sondern auf die sozialen Bedingungen des Gefühls selbst, analog zu dem von Helfritzsch formulierten Credo „Hass dem Hassen“ (S. 25) und nicht den Hassenden. Illegitim sind nicht die sich ekelnden Personen (was ausdrücklich nicht heißt, dass diesen keine Verantwortung zukommt), sondern die undemokratischen Strukturen, die eine Politisierung dieses Gefühls ermöglichen bzw. befördern.

Durch Wut und Trotz antworten

Politisierte Gefühle bergen außerdem das Potenzial, selbst Formen von Kritik zu sein und damit kollektivierten Widerstand gegen ungerechte Situationen zu ermöglichen. Hier geht es Helfritzsch zentral um die Anerkennung der Gefühle marginalisierter und deprivilegierter Gruppen als Siglen ungerechter Verhältnisse. Im Anschluss an Audre Lorde sieht Helfritzsch deshalb die kollektivierende Kraft von Wut als Chance für das Widerständige im Sinne eines Empowerments, wenn sie dem Erleben einer Ungerechtigkeit entspringt; nicht aber, wenn es sich um berechnende Wut zur Manifestation ungerechter Strukturen handelt.

Diese Unterscheidung wird auch deutlich in der Politisierung des Trotzes: Hier ist Helfritzschs Charakterisierung von Trotz als Widerfahrnis entscheidend. Es ist keine Wahl, sich trotzig zu fühlen, sondern immer eine Antwort auf eine übermächtige und als unhaltbar empfundene Situation. Helfritzsch bemüht zur Verbildlichung des – trotz seines aussichtslosen Charakters – erbittert geführten Kampfes das Beispiel von kindlichem Trotz gegenüber den Eltern an: „ein Schreien, ein Wüten, sich auf den Boden werfen, mit den Füßen stampfen, ‚verzerrte‘ Gesichtszüge, ein bis zur Erschöpfung getriebener Widerstand“ (S. 167). Kollektivierter Trotz schafft Handlungsraum, wo strukturell keiner vorgesehen ist. „Trotz bleibt übrig, wenn Zaudern und Verzweiflung zum Dauerzustand geworden sind“ (S. 173). Gehandelt wird auch dann, wenn dieses Handeln aus Trotz im Angesicht der Übermacht der bestehenden Verhältnisse wenig Hoffnung auf Veränderung verspricht. Trotz widerfährt darum auch nicht allen, sondern erfordert laut Helfritzsch prinzipiell eine Deprivilegierung. So gilt das Prinzip Trotz nicht für „weiße, ökonomisch gut gestellte, cisgeschlechtliche Männer“ (S. 159). Ihnen kann Helfritzschs Definition entsprechend in den bestehenden Strukturen schlichtweg kein Trotz widerfahren, auch wenn es natürlich Versuche der Aneignung von Ungerechtigkeiten gibt (wie beispielsweise die absurde Figur eines Rassismus gegen Weiße). Man könnte also sagen, dass Helfritzsch zwischen legitimen und illegitimen Formen politisierten Trotzes und politisierter Wut unterscheidet. Legitimer politisierter Trotz und legitime politisierte Wut sind somit Formen der Kritik, „weil sie [aus der Perspektive der Marginalisierten und Unterdrückten] die Frage aufwerfen, mit welchem Recht das Bestehende so sein soll, wie es ist“ (S. 158).

So lässt sich abschließend zusammenführen, dass es Helfritzsch um das gemeinsame Verändern undemokratischer Strukturen mit Blick auf Gefühle geht, aber dass hierbei keine Gleichheit proklamiert werden darf, die faktisch nicht besteht. Vielmehr ist das Ziel einer Demokratisierung von Gefühlen nur erreichbar über „gerechte Ungleichheiten“ (S. 172), durch die auf Ungerechtigkeiten hingewiesen und ein Ausgleich angestrebt wird zwischen ungerecht bemächtigten Standpunkten. Solange wir hier nicht sind, muss der lange Atem anhalten: Machen wir Gefühle weiter zum Thema!

Paul*A Helfritzsch 2022:
Politisierte Gefühle. Versuche über Ekel, Angst, Hass, Mordlust, Trotz und Demokratie.
Westend, Frankfurt a.M..
ISBN: 9783949925061.
282 Seiten. 39,00 Euro.
Zitathinweis: Leonie Möck: Widerlichkeiten und Widerstand. Erschienen in: Politische Gefühle. 71/ 2024. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1870. Abgerufen am: 02. 05. 2024 13:09.

Zum Buch
Paul*A Helfritzsch 2022:
Politisierte Gefühle. Versuche über Ekel, Angst, Hass, Mordlust, Trotz und Demokratie.
Westend, Frankfurt a.M..
ISBN: 9783949925061.
282 Seiten. 39,00 Euro.