„What counts is what works“?
- Buchautor_innen
- Elke Schimpf, Johannes Stehr (Hg.)
- Buchtitel
- Kritisches Forschen in der Sozialen Arbeit
- Buchuntertitel
- Gegenstandsbereiche - Kontextbedingungen - Positionierungen - Perspektiven
Ein Sammelband, der die Notwendigkeit von Herrschaftskritik und „radikaler Reflexivität“ in Forschungsvorhaben ausweist und Soziale Arbeit als widersprüchliches Feld sichtbar macht.
Soziale Arbeit ist ein berufliches Praxisfeld, in welchem Hilfe mit Kontrolle, Unterstützung des Individuums mit Herrschaftssicherung und staatlicher Konfliktregulierung stets eng verwoben ist. Es scheint daher offensichtlich, dass eine derartige Profession essentiell auf kritische Auseinandersetzungen mit der eigenen Praxis angewiesen ist, will sie nicht schlicht als sozialpolitisches Kontrollinstrument wirken, sondern im Sinne einer kritischen Sozialen Arbeit Handlungsmöglichkeiten von Adressat_Innen erweitern und Normalisierungszwängen entgegenwirken. Es müsste mithin darum gehen, „Subjekte jenseits des institutionellen Blicks zu sehen, was vor allem impliziert, mit den Problemdefinitionen und Normalitätsunterstellungen zu brechen“ (S. 69). Roland Anhorn und Johannes Stehr schlagen in ihrem gemeinsamen Beitrag des Sammelbandes „Kritisches Forschen in der Sozialen Arbeit“ daher eine Perspektive vor, welche „auf die Aufdeckung und Artikulation von Interessenkonflikten zielt und die Subjekte in ihrem Status als Konfliktpartei in den Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Positionierungen wahrnimmt und sie zu 'Konfliktsubjekten' werden lässt“ (S. 69).
Von Wirkungsforschung...
Eine derartige Forschung sehen die Herausgeber_Innen des Sammelbandes gegenwärtig jedoch keineswegs als hegemoniale Strömung im Feld Sozialer Arbeit. Denn obwohl sich Soziale Arbeit zunehmend auch als „forschende Disziplin“ begreife, fehle doch bisher sowohl eine „eigene systematische Forschungstradition“ (S. 7), welche die Bezüge zu theoretischen Ansätzen der Sozialen Arbeit in den Vordergrund stellt, als auch eine fundierte Auseinandersetzung mit den Verstrickungen empirischer Forschung in Machtverhältnisse. In der Einleitung zum Sammelband skizzieren die beiden Herausgeber_Innen Elke Schimpf und Johannes Stehr vielmehr eine Forschungslandschaft welche mit „der normativen Ausrichtung sowohl der Praxis Sozialer Arbeit als auch des Wissenschaftsbetriebes auf Effizienz und Effektivität“ (S. 8) die Tendenz entwickelt, die vorgegebenen Zielsetzungen aus dem Bereich politischer Steuerung zu übernehmen. In der Sozialen Arbeit verbreite sich eine Forschungspraxis, welche Heinz-Jürgen Dahme und Norbert Wohlfahrt in ihrem Artikel als „Sozialtechnologie“ (S. 79) beschreiben. Mit dem Rückgang einer kritischen Gesellschaftstheorie und „in Gefolge des wachsenden Einflusses managerialistischer Steuerungstheorien [werde Sozialarbeitsforschung] auf funktionalistische Perspektiven einer systembezogenen Wirkungs- und Effizienzsteigerung reduziert und eingehegt“ (S. 88).
Eine derartige Forschungspraxis ist es, welche mit dem Sammelband zurückgewiesen werden soll. Um dies zu leisten legen die Herausgeber_Innen jedoch kein neues Methodenhandbuch vor, sondern haben einen Band zusammengestellt, welcher aus unterschiedlichen Perspektiven die Notwendigkeit einer kritischen Selbstreflexion von Forschungspraxen und -methoden in der Sozialen Arbeit herausstreicht und eine Kontextualisierung in kritischer Gesellschaftstheorie einfordert. Es gilt demnach „das Forschen explizit als gesellschaftskritische Praxis zu verstehen“ (S. 10), deren Wert sich letztlich darin erweist
„auf welche Weise Forschung für die Adressat/innen der Sozialen Arbeit einen Gebrauchswert entfalten und inwieweit bzw. auf welche Weise Forschung von diesen als Ressource zur Artikulation eigener Interessen und zur Thematisierungen von gesellschaftlichen Konflikten und Widersprüchen genutzt werden kann“ (S. 11).
… und kritischen Perspektiven
Hierfür bietet der Sammelband eine Reihe fruchtbarer Ansätze. Die insgesamt 16 Artikel setzen sich in drei unterschiedlichen Abschnitten mit verschiedenen Ebenen einer kritischen Reflexion des Forschens in Sozialer Arbeit auseinander. Im ersten Teil wird, auf einem teilweise etwas abstrakten Niveau, eine inhaltlich-theoretische „Schärfung des Gegenstandes“ versucht. Der zweite Abschnitt setzt sich anschließend mit hegemonialen Forschungsperspektiven der Sozialen Arbeit, insbesondere mit Aspekten der bereits angesprochenen Wirkungsforschung, auseinander. Der dritte und umfangreichste Teil stellt bestehende Versuche einer selbstkritischen und machtsensiblen Forschung in der Sozialen Arbeit vor.
Verbindendes Moment der Artikel ist die Frage wie ein Umschlagen in „Ordnungs-Wissen“ verhindert werden kann, welches Herrschaftsverhältnisse ausblendet und bestehende Verhältnisse als schützenswerte Ordnung setzt, und vielmehr eine Wissensproduktion gestärkt werden kann, die zur „Ermöglichung und Unterstützung von Befreiungsprozessen“ (S. 43) führt. In diesem Sinne kritisieren Johannes Stehr und Elke Schimpf im ersten Beitrag zunächst die „Soziale-Probleme-Perspektive“ in der Sozialen Arbeit. Diese verliert allzu häufig aus dem Blick, wie erstens „soziale Probleme“ als relevante gesellschaftliche Phänomene (diskursiv) konstruiert werden und wie zweitens durch strukturelle Verhältnisse Ungleichheiten erzeugt werden. Stattdessen kann diese Perspektive zu einer Problemgruppen-Forschung avancieren oder Ordnungsdiskurse stärken, welche in letzter Konsequenz auch entgegen der eigenen Intention soziale Ausschließungsprozesse legitimieren. Soziale Probleme werden dann als Gefährdung der bestehenden Ordnung begriffen und es wird an die „Eigenverantwortlichkeit der konstruierten Problemgruppe“ (S. 39) appelliert. Ein Beispiel hierfür wären Forschungen zu Kinderarmut, welche letztlich auf Armutseffekte und insbesondere auf die mangelhaften (kulturellen) Leistungen der Eltern fokussieren.
Fabian Kessl und Susanne Maurer legen in ihrem Artikel hingegen das Augenmerk auf die Notwendigkeit „radikaler Reflexivität“ als Element einer kritischen Wissenschaft. Diese Reflexivität verbinden sie mit einer „intellektuellen Unruhe […] einer Erschütterbarkeit […] einem immer wieder Neu-Ansetzen“ (S. 49), welches sie als „'Grenzbearbeitung' – als Tätigkeit an den Grenzen bzw. den Begrenzungen durch die gegebenen Verhältnisse“ (S. 45; Herv. i. O.) auffassen. Unter Verweis auf Michel Foucault kommen sie zu der Ansicht, dass empirische Wissenschaft eine Haltung entwickeln sollte, welcher
„es also darum geht, sehr präzise zu untersuchen, wie soziale Situationen durch soziale wie diskursive Praktiken geschaffen werden, welche Effekte diese Praktiken haben und mittels welcher Praktiken sich Handlungsmöglichkeiten verändern, soziale Situationen 'öffnen' oder 'schließen'“ (S. 52).
Und diese Perspektive ist stets mit aller Konsequenz auch auf die eigene Forschungspraxis zu richten.
Wie eine Forschungspraxis konkreter aussehen könnte zeigen schließlich die Artikel im dritten Abschnitt des Sammelbandes. Während die ersten beiden Abschnitte teils recht abstrakt bleiben, liegt die Stärke des Buches in der Darstellung von und Auseinandersetzung mit kritischen Forschungsperspektiven, die teils auch auf eigene Forschungsprojekte der Autor_Innen zurückgreifen. Die Zusammenstellung ermöglicht es auch, die Überlegungen der ersten Abschnitte griffiger zu machen und zeigt ein weites Spektrum möglicher Ansatzpunkte.
So bietet beispielsweise die differenzierte und selbstkritische Auseinandersetzung von Marion Ott mit den Zugangsbedingungen zu ihrem Forschungsfeld eine gute Ergänzung zu den Überlegungen, welche Elke Schimpf und Johannes Stehr in ihrem Artikel zu „Verstrickungen und Positionierungen in Konfliktfeldern der Sozialen Arbeit“ (S. 107) ausführen. Bereits der Zugang zum Feld kann nach Ott als Prozess untersucht werden, welcher Hinweise darauf gibt, wie Anerkennung und Teilnahmerechte ausgehandelt werden. Ihre ethnographische Forschung zu aktivierender Arbeitsmarktpolitik erlebt sie als „eine permanente Distanzierungsbewegung zwischen sozialen Verortungen bei den verschiedenen Akteursgruppen des Feldes“ (S. 168, Herv. i. O.). So beschreibt Ott, wie sie gleich zu Beginn ihres Forschungsvorhabens von der Leitung des untersuchten Bildungsträgers als „wissenschaftliche Begleitung“ des Programms vereinnahmt wird, aber auch die von ihr gewählten Selbstdarstellungen und wie die erwerbslosen Adressat_Innen der untersuchten Maßnahme Positionierungen von ihr einforderten. Dies konfliktreichen Prozesse begreift Ott als fruchtbare Ansatzpunkte der Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen im Feld und im Forschungsprozess.
Helga Cremer-Schäfer beschäftigt sich hingegen mit der Forschungstradition der kritischen Institutionenforschung, welche Soziale Arbeit „als Teil des sozialstaatlichen Herrschaftsregimes“ (S. 136) begreift. Demnach sei davon auszugehen, dass Soziale Arbeit im Kontext einer Klassenpolitik entstanden sei und es gelte nunmehr das „Wie“ und die Widersprüche von „Hilfe als Herrschaft“ (S. 136) empirisch zu untersuchen. Allerdings macht Cremer-Schäfer auch deutlich, dass „[i]ndem wir aufzeigen, was im Rahmen von ¸objektiven Bedingungen' einer Produktionsweise, einer Staatsform, einer Lebensweise und ihren Machtverhältnissen durch organisierte Sozialarbeit geschieht [...] noch nicht verstanden [ist], wie die Akteure das beschriebene ¸Ergebnis' und Funktionselement durch ihre Handlungen bewerkstelligen“ (S. 143). Auch in diesem Beitrag erhält der Fokus auf die Interaktionen, die Wahrnehmungsweisen der Akteure, die von ihnen zugrunde gelegte Sinnhaftigkeit von Handlungen und ihre „Strategien der Situationsbearbeitung“ (S. 146) daher zentrale Bedeutung.
Die Ebene des Ins-Verhältnis-Setzens zu gesellschaftlichen Anforderungen und Subjektivierungsweisen nimmt schließlich auch der Beitrag von Ellen Bareis in den Blick, welche die Perspektive einer (Nicht-)Nutzungsforschung skizziert. Sie möchte verstärkt „die 'kleinen' Kämpfe, die Akte des Widerstands und die alltäglichen Praktiken im Umgang mit und gegen Ausschließungsprozesse wie im Umgang mit und gegen Integrationsstrategien in den Blick“ (S. 298) nehmen.
Weitere Beiträge des Sammelbandes beschäftigen sich beispielsweise mit einer detaillierten Rekonstruktion von moralischen Urteilen und Verantwortlichkeiten durch Professionelle, der Ettiketierungstheorie, biographischen Zugängen oder der Herstellung von Differenz durch (qualitative) Forschung .
Forschung als politisches Projekt
Die Beiträge vereint, dass sie Prozesse und Interaktionen, Konflikte oder Handlungsspielräume beachten und somit auf die Unabgeschlossenheit sozialer Prozesse hinweisen. Erzeugt wird auf diese Weise kein Wissen, welches direkt in Handlungsanweisungen für die Praxis übersetzt werden kann oder soll. Nach Elke Schimpf ist Forschen selbst vielmehr „als politischer Auftrag zu verstehen, in welchem strukturelle Konflikte thematisiert, veröffentlicht und (re)politisiert werden“ (S. 258).
Es sollte demnach einerseits darum gehen Zumutungen (durch sozialarbeiterische Praxis) zu benennen und andererseits „in herrschafts-kritischer Absicht einen entsprechenden Raum der Potentialität, einen Raum sozialer Imagination“ (S. 43) zu eröffnen, indem bestehende Wahrheitsregime hinterfragt werden. Zwar ähnelt sich in den ersten beiden Abschnitten des Sammelbandes die Stoßrichtung der Artikel gegen die bereits angesprochene Wirkungsforschung teils recht stark und die Aufteilungen in kritische Forschungen einerseits und Ideologieproduktion (S. 88), „Ordnungs-Wissen“ (S. 36) oder eine „herrschaftsstabilisierende[...] Wissenschaft“ (S. 43) andererseits erscheinen teilweise etwas holzschnittartig. Insgesamt jedoch stellt der Sammelband einen lohnenden Beitrag zur machtkritischen Reflexion Sozialer Arbeit dar, welcher die eigene Forschungspraxis im Rahmen Sozialer Arbeit, aber auch ein Nachdenken über die Bedingungen gesellschaftlicher Wissensproduktion allgemein, sehr wohl bereichern kann.
Kritisches Forschen in der Sozialen Arbeit. Gegenstandsbereiche - Kontextbedingungen - Positionierungen - Perspektiven.
Springer VS, Wiesbaden.
ISBN: 978-3-531-94022-9.
316 Seiten. 42,99 Euro.