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Verwehrte Gerechtigkeit

Buchautor_innen
Aktionsbündnis ›NSU-Komplex auflösen‹ (Hg.)
Buchtitel
Tribunale – „NSU-Komplex auflösen“
Eine schmerzhafte, aber wichtige Lektüre: Die Anklagen der NSU-Tribunale sind endlich in einem Buch versammelt.

Die Geschichte des NSU ist die Geschichte einer langjährigen Vorbereitung von rechtem Terror und ebenso die seiner langen staatlichen Missachtung und Vertuschung. Nach der Selbstenttarnung des NSU – ja, bedauernswerterweise erst danach – erfolgte eine antifaschistische Anklage der rechten und der staatlichen Strukturen, die seither als „NSU-Komplex“ betitelt werden.

„Wir klagen an“

Das Buch „Tribunale – NSU-Komplex auflösen“ versammelt die Anklageschriften der drei vom bundesweiten Aktionsbündnis organisierten Tribunale von 2017 bis 2019. Über 100 Personen, darunter Nazis, V-Leute und Beamte des Verfassungsschutzes, sowie Politiker*innen oder Journalist*innen werden im Buch aufgeführt und angeklagt. Dank genauer Recherchen wird die These eines selbständig agierenden Trios auf jeder Seite des vorliegenden Buches widerlegt. Daraus ergibt sich auch an Anprangern des gesellschaftlichen und institutionellen Rassismus, der die Morde und Gräuel des NSU und seines Umfeldes erst ermöglichte und später systematisch unter den Teppich kehrte.

Das Buch beinhaltet ebenso Erklärungen und Anklagen Angehöriger der vom NSU Ermordeten und bezieht zu den Angriffen von Halle und Hanau Stellung. Das Herausgeber*innenkollektiv übt dabei den Schulterschluss mit anderen antirassistischen Initiativen und verweist von vornherein auf den gemeinsamen Kampf um Erinnerung und Aufklärung. Vorrangig weist das Buch auf die staatliche und institutionelle Ignoranz hin, die den Hinterbliebenen die gewünschte Aufklärung noch immer verwehrt.

Mehr als ein symbolischer Akt

Seit August 2014 leistet das Bündnis „NSU-Komplex auflösen“ wichtige Arbeit in der politischen und rechtlichen Auseinandersetzung um die Taten des NSU und seiner gesellschaftlichen und institutionellen Verankerung. Dem Aktionsbündnis ging es darum, mehr zu fordern als die lückenlose Aufklärung des rechten Terrors im vereinigten Deutschland. Es verstand sich immer auch als gesellschaftliches Bündnis, das gemeinsam mit den Betroffenen rechter Gewalt eine Anklage formulieren will. Diese Anklage ist, so schreiben sie am Ende des Buches, „mehr als symbolisch“ (S. 247). Die Anklage des Tribunals ist eine „Ermächtigung“ (ebd.) im politischen Konflikt. Sie stellt auch die Aufgabe, es nicht bei der bestehenden Anklage zu belassen. Im Kampf um Gerechtigkeit müsse die Anklage fortgeschrieben werden. Gleichwohl ist die Chance auf lückenlose Aufklärung aufgrund unterdrückter und vernichteter Informationen gering.

Das Herausgeber*innenkollektiv liefert mit dem Buch nicht nur eine Dokumentation ihrer Arbeit, sondern auch ein weiteres Nachschlagewerk zu den Figuren und Entstehungsbedingungen des NSU. Zu sämtlichen Anklagen hängen zahlreiche Quellenangaben an. In den Hintergrundtexten hätten sich für ein besseres Lesegefühl an einigen Stellen Wiederholungen vermeiden lassen. Auch das Satzlayout des Buches irritiert an manchen Stellen. Der Versuch einer schönen Aufmachung und angenehmen Lektüre scheitert letztlich schon am literarischen Format. Das tut der Brisanz des Buch jedoch keinen Abbruch.

Anklage und Mahnung

Der NSU-Prozess wurde mit dem skandalträchtigen Urteilsspruch des OLG München für beendet erklärt, aber die Arbeit des Erinnerns und die Einforderung von Aufklärung sind weiterhin bitter nötig. Das belegen nicht zuletzt die Drohschriften des sogenannten „NSU 2.0“ und der Fortbestand zahlreicher rechter Strukturen in Staat und Gesellschaft. Ihre Attacken gehen, ob erkannt oder nicht, kontinuierlich weiter. Dem Bündnis und Herausgeber*innenkollektiv ist für die langjährige Arbeit im Kampf um Aufklärung und Gerechtigkeit, von dem auch das vorliegende Buch zeugt, zu danken. Sich den Geschichten der Betroffen und Hinterbliebenen rechter und rassistischer Gewalt zu öffnen, ihre Forderungen und Anklagen in die Öffentlichkeit zu tragen, bleibt eine antifaschistische Aufgabe. Daran muss sich die Gesellschaft der Vielen um ihrer selbst willen messen.

Aktionsbündnis ›NSU-Komplex auflösen‹ (Hg.) 2021:
Tribunale – „NSU-Komplex auflösen“.
Assoziation A, Hamburg.
ISBN: 978-3-86241-486-4.
304 Seiten. 16,00 Euro.
Zitathinweis: Thore Freitag: Verwehrte Gerechtigkeit. Erschienen in: NSU - Zehn Jahre nach der Selbstenttarnung. 61/ 2021. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1721. Abgerufen am: 19. 04. 2024 22:12.

Zum Buch
Aktionsbündnis ›NSU-Komplex auflösen‹ (Hg.) 2021:
Tribunale – „NSU-Komplex auflösen“.
Assoziation A, Hamburg.
ISBN: 978-3-86241-486-4.
304 Seiten. 16,00 Euro.