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Über Flucht in der Schule sprechen

bpb
Buchautor_innen
Bundeszentrale für politische Bildung
Buchtitel
Flüchtlinge
Buchuntertitel
Themenblätter im Unterricht/Nr. 109

Aktuellen Unterrichtsmaterialien zum Thema Flucht und Asyl mangelt es an didaktischem Geschick und inhaltlicher Expertise.

Wie können Fragen zu Flucht und Asyl in der Schule behandelt werden? Lehrer*innen, die sich diese Frage stellen, können im Internet auf eine Reihe von kostenlosen und bereits für den Schulunterricht aufbereiteten Materialien zurückgreifen. Neben Handbüchern und Arbeitsblättern gibt es Infographiken, Filme, Rollenspiele, Audiomaterial, Ideensets und vieles mehr. Angeboten werden die Unterrichtsmaterialien beispielsweise von Hilfsorganisationen wie der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen oder MISEREOR, von zivilgesellschaftlichen Initiativen für Globales Lernen, der Bundeszentrale für politische Bildung oder Forschungsinstituten. Die Herausforderung ist also nicht, Materialien zum Thema zu finden, sondern diese einzuordnen. Es stellt sich die Frage, wie die Themen Flucht und Asyl in Unterrichtsmaterialien inhaltlich aufbereitet werden und welche politischen und theoretischen Perspektiven darin vor allem auch implizit vermittelt werden. Beispielhaft kann ein Blick auf Arbeits- und Themenblätter der ZEIT und der Bundeszentrale für politische Bildung geworfen werden, die für den Schulunterricht in der Sekundarstufe konzipiert wurden.

Flüchtlinge als Fachkräfte in der ZEIT

Die ZEIT stellt in ihrem Online-Portal ZEIT für die Schule kostenlos Arbeitsblätter zu aktuellen Themen zur Verfügung. Unter der Rubrik Medienbildung sind im Jahr 2015 gleich zwei Mal Arbeitsblätter für die Sekundarstufe II zum Thema Flucht und Asyl erschienen: eine Ausgabe im April über „Flüchtlingspolitik" und eine im September mit dem Titel „Flüchtlinge: Die neuen Fachkräfte und Musterschüler“. Letztere umfasst eine kurze, thematische Einführung für Lehrkräfte sowie zwei Arbeitsblätter mit Arbeitsaufträgen für Schüler*innen. Unter anderem ist ein Artikel aus der ZEIT vom Juli 2015 zu bearbeiten, in dem unter dem Titel „Die Streber kommen“ (S. 3) von einem Schulleiter eines Hamburger Gymnasiums berichtet wird, der sich für die Aufnahme von geflüchteten Kindern und Jugendlichen an seiner Schule einsetzt. Bei einem weiteren Arbeitsblatt steht ein Interview mit einem Chef einer Zeitarbeitsfirma im Mittelpunkt, der Geflüchtete als Gewinn für die deutsche Wirtschaft betrachtet.

Nicht nur in den ZEIT-Artikeln, sondern auch in der Einführung und in den Arbeitsaufträgen bleibt die Rhetorik im neo-liberalen Jargon verhaftet: Die Geflüchteten werden als besonders motiviert und leistungswillig („Ehrgeiz, Motivation und Hunger auf Bildung“, S. 4) beschrieben. Gleichzeitig werden sie als kompensatorisches Mittel für den Fachkräftemangel in Deutschland präsentiert („Wir vergeuden Talente!“, S. 8) und das „ungenutzte Potential der Flüchtlinge“ (S. 1) kritisiert. In der gleichen Argumentationslogik kann die Kategorisierung in “bessere“ und „schlechtere“ Migrant*innen eingeordnet werden: Der Kommentar eines Schulleiters, die Geflüchteten sehen die Schule im Gegensatz zu Migrant*innen der zweiten und dritten Generation als große Chance in ihrem Leben, soll ein positives Bild von Geflüchteten durch die Abwertung von als Migrant*innen Markierten schärfen.

Sprechende Subjekte in den Artikeln sind aktive und großzügige deutsche Bürger*innen, die sich für die Rechte von Geflüchteten in Deutschland einsetzen („Nebe hat beschlossen eine Klasse für Kinder einzurichten, die kein Wort Deutsch verstehen - von sich aus“, S.3).; Geflüchtete selbst kommen gar nicht zu Wort und Lebensumstände von Geflüchteten, insbesondere mit unsicherer Bleibeperspektive, werden nicht thematisiert.

Die Aufgaben zu den Artikeln regen nur punktuell zur kritischen Auseinandersetzung mit den Artikeln an. Das Thema scheint hier eher als ein Mittel zum Zweck zu dienen, journalistische Fähigkeiten zu schulen: Ein Auftrag, junge Geflüchtete im eigenen schulischen Umfeld zu interviewen, um über die Ausbildung im Heimatland und ihre Bildungsvorhaben in Deutschland zu erfahren, verkennt völlig, dass es sich bei diesen Jugendlichen um Schutz suchende Menschen handelt, die nicht zum Üben von Interviewtechniken missbraucht werden dürfen. Positiv hervorgehoben können die Arbeitsaufträge in Arbeitsblatt 2. Hier sollen die Schüler*innen sich mit Fragen der Objektivität des Interviewten und weiterführender Recherche zur arbeitsrechtlichen Situation von Geflüchteten befassen.

Die ZEIT will mit dem Fokus auf Flüchtlinge als Streber und potentielle Fachkräfte dem Bild von Asylsuchenden als Opfer oder Belastung etwas entgegen setzen. Leider zeichnen sie dabei ein völlig undifferenziertes Bild von Asyl in Deutschland und gehen auf wichtige Aspekte der strukturellen Diskriminierung von Geflüchteten nicht ein. So sind Geflüchtete beim Zugang zum Arbeitsmarkt oder ins Bildungssystem mit besonderen Hürden konfrontiert: An Hochschulen entstehen zwar zurzeit verschiedene Programme, um Geflüchteten den Zugang zum Studium zu ermöglich. In den wenigstens Fällen können sie aber Prüfungen ablegen oder einen Abschluss erreichen. Viele Geflüchtete haben außerdem keinen oder nur einen eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt. Denn selbst diejenigen, die nach drei Monaten eine Arbeitserlaubnis erhalten, haben mit bürokratischen Hürden, wie der Vorrangregelung von Deutschen und EU-Bürger*innen vor Geflüchteten für Arbeitsplätze zu kämpfen. Die ZEIT spart außerdem eine kritische Auseinandersetzung mit den Gefahren eines Verwertbarkeitsdiskurses und den damit zusammenhängenden Einteilungen in gute und schlechte Migrant*innen aus. Bei der Frage nach Asyl geht es nämlich um den Schutz von Menschen – nicht um das Ankurbeln einer schwächelnden Wirtschaft des Aufnahmestaates.

Die Bundeszentrale für politische Bildung über Flüchtlinge

Ebenfalls mit dem Thema „Flüchtlinge“ beschäftigt sich die im Oktober 2015 erschienene Ausgabe der „Themenblätter im Unterricht“ der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Die Themenblätter sind für zwei Unterrichtsstunden konzipiert und beinhalten eine 5-seitige thematische und methodische Handreichung für Lehrer*innen, ein Glossar, zwei Arbeitsblätter mit Arbeitsaufträgen für die Schüler*innen sowie weiterführende Hinweise zum Thema. In einem Arbeitsblatt mit dem Titel „Flüchtlinge weltweit“ sollen sich die Schüler*innen anhand von Fotos, einem Rollenspiel und einer Karte mit Fluchtursachen und den wichtigsten Aufnahmeländern von Geflüchteten beschäftigen sowie einige Aspekte der EU-Flüchtlingspolitik recherchieren und diskutieren. Das Arbeitsblatt mit dem Titel „Das Boot ist voll“ soll die Möglichkeit bieten, verschiedene Meinungen zur Aufnahme und Unterbringung von Geflüchteten in Deutschland zu reflektieren.

Im Gegensatz zu den Arbeitsblättern der ZEIT ist die bpb bemüht, einen mehrschichtigen und mehr-perspektivischen Zugang zur Thematik zu vermitteln. Für die Fülle an verschiedenen Themen und Aufgaben dürften allerdings selbst zwei Doppelstunden nicht ausreichen. Außerdem sind die Arbeitsaufträge teils schwer verständlich, weil die Aufgaben nicht immer aufeinander aufbauen und es an Hintergrundinformationen für die Lehrkräfte fehlt. Die zur Visualisierung des Themas Fluchtursachen zur Verfügung gestellten Fotos sind weder für Schüler*innen noch für Lehrer*innen einfach zu deuten und verfehlen damit das Ziel, ein komplexes Thema schüler*innengerecht darzustellen. Der Internetrechercheauftrag zu Fluchtursachen und die Weltkarte zu Hauptaufnahmeländern von Geflüchteten machen immerhin deutlich, dass Menschen aus unterschiedlichen Gründen Asyl suchen - auch in Deutschland, aber vor allem in Ländern wie dem Libanon, Pakistan oder der Türkei.

Ziel der bpb ist es, dass die Schüler*innen nicht nur über Fluchtursachen und -bewegungen sowie Flüchtlingspolitik informiert werden, sondern sich auch in Empathie üben. So sollen sich die Schüler*innen beispielsweise in eine Familie hineinversetzen, die vor der Entscheidung steht zu fliehen. Ohne eine weitere Kontextualisierung dieser Aufgabe zum Beispiel durch einen Film oder ein Buch, die die Lebensgeschichte und Lebenssituation von Geflüchteten näher bringen, bleibt allerdings fraglich, ob Schüler*innen ohne Fluchterfahrung eine emotionale Verbindung zu den gestellten Situationen aufbauen können. Ein weiteres Anliegen der bpb ist es, dass die Schüler*innen das Thema mit ihrer eigenen Lebenswelt verknüpfen. Zu diesem Zweck wird aktuellen Debatten in Deutschland um die „Flüchtlingskrise“ viel Raum gegeben und die Schüler*innen sollen eine Debatte zwischen Befürworter*innen und Gegner*innen einer geplanten Sammelunterkunft darstellen. Dass dabei rassistische und fremdenfeindliche Argumente generiert werden können, wird allerdings nicht weiter problematisiert. Viel sinnvoller wäre es an dieser Stelle, den vielerorts alltäglichen Rassismus und die Gewalt gegen Geflüchtete in Deutschland zu thematisieren, sowie eigene Vorurteile zu reflektieren.

Es scheint, dass die bpb sich auf Grund der Aktualität des Themas in der Pflicht fühlte, Materialien für den Unterricht bereitzustellen. Leider mangelt es insbesondere bei der didaktischen Umsetzung dieses vielschichtigen Themenkomplexes.

Sich selbst als Teil der Migrationsgesellschaft entdecken

In beiden Arbeitsblättern wird sehr darauf geachtet, dass Schüler*innen sich darüber Gedanken machen, wie „die Flüchtlinge“ zu betrachten sind, was sie nach Deutschland bringt, welche Vorteile sie für Deutschland bringen und welche Herausforderungen ihr Kommen für die lokale Bevölkerung bedeutet. Dabei wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass die Schüler*innenschaft selbst keine Fluchterfahrung hat. Gemeinsam ist den Arbeitsblättern auch, im Lebensumfeld der Schüler*innen anzusetzen, um ihnen so das Thema näher bringen zu wollen. Da erscheint es für Schüler*innen erkenntnisreicher, eigene familienbiographische Forschungsprojekte durchzuführen. So können Flucht- und Migrationserfahrungen von Schüler*innen im Unterricht Raum finden, ohne dass ein nicht anwesendes, geflüchtetes „Anderes“ konstruiert werden muss. Außerdem wird so auch deutlich, dass die meisten Familien Flucht und/oder Migration erlebt haben. Die Schüler*innen können sich so über ihre eigene Rolle in der Migrationsgesellschaft bewusst werden. Ein Bezug zum größeren, lokalen Kontext außerhalb der Schulklasse, wie zum Beispiel zum Stadtviertel, ermöglicht den Schüler*innen, globale Ereignisse vor Ort zu entdecken und zivilgesellschaftliches Engagement als integralen Teil von globalem Lernen zu verstehen. Durch Theaterstücke wie den „Asylmonologen“ oder durch das Vernetzen mit lokalen Bleiberechtsinitiativen können Geflüchtete selbst zu Wort kommen.

Verwendete Literatur

Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.) (2015): „Flüchtlinge". Themenblätter im Unterricht/ Nr.109. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn. Oktober 2015. Online hier. ZEIT Online (Hg.) (2015): „Flüchtlinge: Die neuen Fachkräfte und Musterschüler?" Arbeitsblätter Sekundarstufe II. September 2015. Online hier.

Bundeszentrale für politische Bildung 2015:
Flüchtlinge. Themenblätter im Unterricht/Nr. 109.
Bundeszentrale für politische Bildung.
ISBN: 0944-8357.
14 Seiten.
Zitathinweis: Lydia Heidrich und Sophie Hinger: Über Flucht in der Schule sprechen. Erschienen in: Asylpolitik: Wider die Bewegungsfreiheit. 38/ 2016. URL: https://kritisch-lesen.de/s/zJBiQ. Abgerufen am: 21. 11. 2024 11:47.

Zum Buch
Bundeszentrale für politische Bildung 2015:
Flüchtlinge. Themenblätter im Unterricht/Nr. 109.
Bundeszentrale für politische Bildung.
ISBN: 0944-8357.
14 Seiten.