This is not a Love Song...
- Buchautor_innen
- Martin Büsser
- Buchtitel
- On the Wild Side
- Buchuntertitel
- Die wahre Geschichte der Popmusik
Musik hören ist für manche politisch, tanzen für viele subversiv, Platten kaufen förderte manche gesellschaftskritische Haltung. Hat diese Utopie immer noch einen lebenspraktischen Gehalt?
Martin Büsser (1968-2010) war ein im Bereich des Popmusikdiskurses sehr versierter Journalist und Autor, gab die poptheoretische Zeitschriftenreihe „testcard“ heraus und spielte selbst in einer Band. Sein Werk „On the Wild Side“ ist zum ersten Mal vor fast 10 Jahren erschienen. Der Ventil-Verlag brachte das Buch mit dem dramatischen Titel noch einmal im Jahr 2013 heraus. Dort wird es als „ambitioniertester Versuch“ bewertet, „eine Geschichte der Popmusik des 20. Jahrhunderts zu schreiben“.
Büssers brillanter Text ist chronologisch angelegt, dabei aber nicht wie so oft nach Dekaden (70er, 80er, 90er, …), sondern nach Zeiträumen politischer Verhältnisse und ihrer Veränderungen strukturiert. Er beschreibt Musikgeschichte als Ausdruck politischer und sozialer Bewegungen. Die Kapitel werden jeweils mit Abbildungen der für Büsser acht coolsten Plattencover des entsprechenden Zeitraums (zum Beispiel 1960-72 und 1981-89) eingeleitet. Von diesen wird auf das Ende des Buchs mit 21 Seiten annotierter Plattentipps verwiesen, die mensch vermutlich als Kanon eines poplinken Musikhorizonts verstehen soll. Positiv daran ist, dass das Wissen um gute Musik niedrigschwellig geteilt wird und nicht als Geheimwissen daherkommt. Ein großes Manko allerdings an diesem „Who‘s Who“ musikalischer Coolness ist der eklatante Mangel an nichtmännlichen Musiker_innen, der in einer weiteren Auflage dringend zu korrigieren wäre.
Der Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Pop ist in fast jedem seiner Sätze präsent. Denn Musik ist bei Büsser nicht nur eine ästhetische Oberfläche, sondern entsteht aus gesellschaftlichen Umständen und Lebensbedingungen konkreter Personen, ihren Freuden und Nöten. Büsser verweist auf den politischen Ursprung und Gehalt vieler Musikstile, der meist unbekannt ist, so zum Beispiel beim Zusammenhang von sexuellen und schwarzen Befreiungsbewegungen mit Disco, Free Jazz und Detroit-Techno, der als Ausdruck der „komplexen musikalischen Philosophie des Afrofuturismus“ (S. 180) gehandelt wird. Das tut Büsser, indem er eine differenzierte Unterscheidung zwischen Kunst und Politik trifft: Er unterstellt der Musik nicht zu viel Politizität und vereinnahmt auch keinen Musikstil als Zugpferd für mögliche linke Identifikationsbedürfnisse – jedenfalls nicht vorrangig.
In fast jedem Kapitel ist ein kleiner Feminismus-Check enthalten, der das Geschlechterverhältnis der besprochenen Szene bewertet. Das Ergebnis fällt erwartungsgemäß mau aus. Des Weiteren ordnet Büsser die Musiker_innen in größere ästhetische Strömungen ein und benennt ihr Anknüpfen an die Avantgarden der bildenden Kunst. So bediente sich zum Beispiel die Band Velvet Underground bei Fluxus, einer Bewegung der Bildenden Kunst in den 1950er und -60er Jahren. Diese Einordnung in größere politische und ästhetische Zusammenhänge ist charakteristisch und sympathisch. Sehr stark rezipierte Künstler_innen werden in ihrem Kontext und mit ihren spezifischen Rezeptionsbedingungen dargestellt, ohne die sie nicht das geworden wären, was sie dann waren. Büsser ist damit weit entfernt von der Perspektive eines Fans auf seine Lieblingsmusiker_innen und einer damit verbundenen Überhöhung von Künstler_innen zu „Genies“.
Aha-Erlebnisse
Büsser beschreibt schwarze Musik der 1960er und -70er Jahre als Aspekt des Kampfes der Black Community gegen Rassismus, zum Beispiel mit der Band Sly and the Family Stone und ihrem Song „Don‘t call me Nigger Whitey“, die ihre politische und musikalische Praxis als Einheit begriff. Büsser verhandelt anhand der Band Can das Politische neu, das er in ihrem ästhetischen Kosmopolitismus, ihrer internationalen Form sieht. Im Glamrock sieht er eine Kritik an der heterosexuellen Norm mit Alice Cooper formuliert, der mit Tabubrüchen zu Sex und Gewalt schockierte. Büsser präsentiert eine winzige Szene britischer Jazzrockbands Mitte der 70er mit ihren selbstverwalteten Labels und ihrem Do It Yourself-Ansatz überzeugend als Vorreiter des Punk. Er bricht mit dem Mythos des Punk als Bewegung der britischen Arbeiterjugend. Stattdessen stellt er am Beispiel der Hakenkreuzbinden, die die Sex Pistols trugen, den situationistischen Ansatz des linken Intellektuellen und Pistols-Mastermind Malcolm McLaren dar. Er hätte unter anderem damit den Kapitalismus als sinnentleertes Spektakel vorführen wollen, wo das Politische nur noch als leeres Zeichen existiert. Büsser zeigt den teilweise rechtsgerichteten, zumindest jedoch kleinbürgerliche Werte propagierenden Oi-Punk als kulturellen Ausdruck der britischen Arbeiterklasse. Bands wie Clash und Crass wendeten für den Autor mit ihrer Repolitisierung von links das Abgleiten des Punk in eine rechte Bewegung ab und förderten den Schulterschluss mit der Hausbesetzer_innen- und Autonomenszene in den 80er Jahren. Der Link von Punk und auch Postpunk um 1980 zum Feminismus hätte allerdings umfangreicher beschrieben werden können. An dieser Stelle hat die Popgeschichte mehr zu bieten als das, was Büsser präsentiert.
New Wave decke laut Büsser mit Selbstreflexivität gesellschaftliche Strukturen auf, hinterfrage die gesellschaftliche Funktion des Tanzens und greife Popmusik formal an, zum Beispiel mit dem Stück „This is not a Love Song“ von John Lydon. Im Industrial unter anderem von Throbbing Gristle sieht Büsser eine gesellschaftliche Metakritik und hält ihm die Konfrontation mit dem Holocaust und das Dekodieren von Kontrollmechanismen zugute. Die Entwicklung des Hip-Hop beschreibt Büsser vor dem Hintergrund schwarzer Selbstermächtigung. Die Trias aus Graffiti, Breakdance und Rap, wie auch das Battlen, seien als Alternative zu jugendlichen Bandenkriegen entwickelt worden.
Mit Sonic Youth und John Zorn erklärt Büsser, was es mit der Postmoderne auf sich hat. Absolut spannend zu lesen ist der Teil über den politischen Gehalt des Techno. Mit Acts wie Underground Resistance und The KLF beschreibt Büsser praktische Kritik an der Musikindustrie zum Beispiel mit der bewussten Abschaffung des Musikers. Er sieht dort den direkten Einfluss von Michel Foucaults Philosophie. Die Abschaffung von Subjekt und Identität sollte auch die Zuschreibungen an diese, wie Hautfarbe und Geschlecht, beenden, stattdessen sollte es nur noch tanzende Körper geben. Die britische Rave-Szene wurde außerdem durch ihre Kriminalisierung seit 1994 politisiert und ging Allianzen mit Hausbesetzer_innen ein.
Mit der Existenz von Nazirock konstatiert Büsser die Entkopplung des Pop in den 90er Jahren von seiner Widerständigkeit. Gleichzeitig beklagt er mit den Worten von Diedrich Diederichsen, dass sich der Begriff „Pop“ zu einem „zeitdiagnostischen Dummy-Term“ (S. 205) entwickelt habe. Als Pop galten nun sowohl der Entertainer Harald Schmidt als auch der sogenannte „Medienkanzler“ Gerhard Schröder. Die Machteliten posierten mit E-Gitarre oder an der Seite von Musiker_innen. Gleichzeitig beklagt Büsser damit indirekt das Ende einer Utopie: „Betrachtet man die Geschichte der Popkultur, könnte der Eindruck entstehen, dass jedem neuen Impuls schon seine Etablierung inne wohnt“ (S. 228).
Kritik
Hin und wieder franst das Buch aus und mündet in Ratlosigkeit. Manchmal wiederholt der sonst wortgewandte Autor die Sprachlosigkeit zeitgenössischer Musikjournalist_innen angesichts ihrer Überwältigung über „das Neue“ und „nie Dagewesene“. So werden dem Techno „keinerlei wiedererkennbare Songstrukturen“ diagnostiziert, die Alben des Warp-Labels als „musikalische mathematische Rätsel“ präsentiert und mit dem seltsamen Begriff des „Electronic Listening“ gelabelt. Angesichts der Existenz von Hardcore-Techno und Breakcore verwundert die Bezeichnung „rasant“ für das Tempo von Ramones-Songs. Auch die Zusammenhänge zwischen Musikproduktion, -rezeption und Internet könnten umfassender dargestellt sein. Je näher Büssers Text der Gegenwart kommt, desto mehr regt sich kritischer Widerspruch in der Leser_in. Zum Selbsterlebten hat mensch meistens eine ausgeprägte eigene Haltung. Bei manchen Musikstilen kommt der Zusammenhang zum Politischen nicht so knackig oder zumindest ein wenig idealisiert rüber, zum Beispiel wenn der Indie-Szene im Kapitel „... und schlaffe Jungs“ eine „neue Männlichkeit“ diagnostiziert wird, die auf bessere zwischenmenschliche Kommunikation hinarbeite (S. 214f.). Dabei ist diese ebenso männerdominiert wie jedes andere Musikgenre. Das kurze Kapitel über Riot Grrrl dagegen hätte länger ausfallen können. Büsser verschweigt dort großartige Vorläufer_innen im Postpunk und New Wave. Das Kapitel über Postrock liest sich nichtssagend, besonders auch auf seinen politischen Gehalt hin. Dabei könnte anhand von Postrock ganz großartig die Rockismus-Kritik durchdekliniert werden. Der Antifolk hingegen, dem Büssers größte Sympathie galt, stellte sich als nur kurze Fußnote in der Musikgeschichte heraus und hatte dementsprechend keine breite politische Wirkung.
Doch dem Buch sollte zugute gehalten werden, dass es im Jahr 2006 erschienen ist und damit über eine ganze Reihe popkultureller Phänomene nicht mehr berichten kann. Um diese konzentriert zu beschreiben, wie er es in den ersten 70% des Buches tat, hätte der Autor vielleicht mehr zeitlichen Abstand gebraucht. Umso bedauerlicher ist sein früher Tod vor drei Jahren. Zusammengefasst kann gesagt werden, dass dieses kluge Buch bei aller Kritik großartig und sehr lesenswert ist. Es sollte als Schulbuch für den Musikunterricht eingesetzt werden. Seine Stringenz und gesellschaftliche Bezogenheit lehren, dass Musik nicht einfach nur Musik ist.
On the Wild Side. Die wahre Geschichte der Popmusik.
Ventil Verlag, Mainz.
ISBN: 978-3-95575-003-9.
264 Seiten. 14,90 Euro.