So komplex, so konservativ
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- Theorie der digitalen Gesellschaft
Der Soziologe Armin Nassehi will ganz innovativ die Digitalisierung erklären: Der Grundgedanke aber ist nicht neu, seine Schlussfolgerungen bestärken letztlich den Status quo.
Im Sommer 2019 hat Armin Nassehi sein neuestes Buch vorgelegt: „Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft“. Innerhalb kürzester Zeit gab es begeisterte Rezensionen in allen Medien. Armin Nassehi ist Soziologieprofessor in München, Systemtheoretiker und Vertreter der These Luhmanns, dass wir in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft leben. Bekannt geworden ist er durch einen Briefwechsel mit Götz Kubitschek, von dem er sich später vorsichtig distanziert hat. Nassehi ist der Ansicht, eine Linke brauche es nicht mehr und verweist auf die Komplexität der Gesellschaft, die von Linken nicht gesehen werde. Er wird als Politikberater der Grünen und Gesprächspartner von Robert Habeck wahrgenommen und stellt sich auch selbst so dar. Mit alldem ist er ein raffinierter Verteidiger des Status quo. Welche stützende Rolle Digitalisierungsprozesse dabei spielen können, dafür kann das Buch ein Lehrstück sein. Darüber hinaus – kein schlechter Nebeneffekt – führt die Lektüre des Buches unweigerlich zu einem besseren Verständnis von Digitalisierung.
Komplexität statt Kapitalismus?
Nassehi beginnt mit einer Frage: „Für welches Problem ist die Digitalisierung eine Lösung?“ (S. 12) Er verbindet sie mit seiner sich im Verlauf des Textes entfaltenden Grundthese. „Ich werde behaupten, dass die gesellschaftliche Moderne immer schon digital war, dass die Digitaltechnik also letztlich nur die logische Konsequenz einer in ihrer Grundstruktur digital gebauten Gesellschaft ist“ (S. 11, Herv. i.O.). Anders formuliert: Zunächst gab es die digitale Gesellschaft und dann folgte die ihr entsprechende technische Digitalisierung. Und das „Bezugsproblem der Digitalisierung“ ist „Komplexität“. Damit ist die Stoßrichtung vorgegeben. Vor allem die Linke, so argumentiert Nassehi, habe keine Antwort auf dieses Problem gefunden. Ihre Kritik als Kapitalismuskritik zu formulieren sei unterkomplex. Dagegen stelle die Digitalisierung eine Möglichkeit dar, mit Komplexität umzugehen.
Nassehi macht deutlich, dass er sich in der Digitalisierung zu Hause fühlt. Was er allerdings nicht kennt oder nicht zur Kenntnis nimmt, sind die Einsichten des Computerspezialisten und -kritikers Joseph Weizenbaum, der in seinem Text „Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft“ bereits in den 1970er Jahren entscheidende Fragen der Digitalisierung vorwegnimmt und einige ihrer grundlegenden gesellschaftspolitischen Probleme aufzeigt. Weizenbaum, im Zentrum der Computerforschung am MIT in Boston, ist Kenner der Anfänge der Künstlichen Intelligenz und einer ihrer ersten Kritiker. Er beantwortet genau jene Frage, die den Ausgangspunkt von Nassehis Buch darstellt. Aber Weizenbaums Antwort ist grundlegend anders.
Dass Nassehi das nicht weiß oder nicht zur Kenntnis nimmt, ist eine Sache. Dass seine Rezensent*innen dies nicht bemerken, muss man ihnen nicht unbedingt vorwerfen, wirft aber ein Licht auf Text und Situation, in der dieses Buch eine bestimmte Funktion erfüllen kann und vielleicht deshalb auf Zustimmung trifft. Wenn Nassehi eines schafft, dann ist es nicht so sehr die Verteidigung einer manchem als unaufhaltsam erscheinenden Digitalisierung. Das wäre banal und zurecht kritisiert er romantisierende Versuche, Digitalisierung „aufzuhalten“. Vielmehr gelingt ihm die Verteidigung der Digitalisierung der Gesellschaft als Verteidigung und Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Status quo.
Konservierung durch Innovation
Für Weizenbaum war schon in den 1970er Jahren klar: „...viele Probleme im Zusammenhang mit Wachstum und zunehmender Komplexität, die in den Nachkriegsjahrzehnten hartnäckig und unwiderstehlich nach einer Lösung drängten, hätten als Anreiz für politische und gesellschaftliche Neuerungen dienen können“ (Weizenbaum 1978, S. 53f.). Stattdessen gab es „technische Erfindungen und Innovationen“. „Ja, der Computer“ so Weizenbaum weiter,
„kam ‚gerade noch rechtzeitig‘, um gesellschaftliche und politische Strukturen intakt zu erhalten – sie sogar noch abzuschotten und zu stabilisieren –, die andernfalls entweder radikal erneuert worden oder unter den Forderungen ins Wanken geraten wären, die man unweigerlich an sie gestellt hätte. Der Computer wurde also eingesetzt, um die gesellschaftlichen und politischen Institutionen Amerikas zu konservieren. […] Die Erfindung des Computers stellte einen Teil einer scheinbar stabilen Welt infrage, was bei fast jeder schöpferischen Handlung des Menschen der Fall ist. […] Aber von den vielen Möglichkeiten einer gesellschaftlichen Innovation, die er dem Menschen eröffnete, war die verhängnisvollste die, ihm alle Überlegungen in Richtung auf eine wesentliche Veränderung aus dem Kopf zu schlagen“ (ebd., S. 54).
Das ist eine starke These und sie steht – mehr als 50 Jahre früher formuliert – in einem diametralen Gegensatz zur These Nassehis. Auf diesem Hintergrund lässt sich zumindest die Lektürefrage stellen, mit der Nassehis Buch zu lesen wäre: Für welches Problem ist denn seine Theorie eine Lösung? Der penetrant wiederholte Verweis auf Komplexität ist hier auffällig. Welche Funktion hat er?
Von der analogen Gesellschaft in die digitale Welt
Nassehis Theorie in Kurzform: Die technische Digitalisierung träfe auf eine Gesellschaft, die schon längst digital geworden sei. Diese Digitalisierung beginne im 19. Jahrhundert mit einer digitalen Betrachtungsweise der Gesellschaft durch Sozial- und Gesundheitsstatistiken und vielerlei mehr. Zugleich sei die Gesellschaft komplex geworden und die digitale Form sei die ihr entsprechende. Aus dieser Perspektive ist es naheliegend, dass eine solche Gesellschaft eine hinterherhinkende technologische Entwicklung – Computer und Softwareprogramme – aufgreift und so ihre Form findet. Diese Form muss bezüglich ihrer Grundlogik einfach sein. Die 0 und die 1 – das binäre System – sind die derzeit einfachste Möglichkeit für solch eine Form. Die digitale Form enthalte nun die Möglichkeit, durch eine Vielzahl von Rekombinationen der gegebenen Komplexität gerecht zu werden. Hier geschieht das, was Nassehi eine „Verdopplung“ nennt: Die analoge Gesellschaft finde ihre Verdopplung in der digitalen Welt. All dem ist die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft – einmal mehr: Luhmann – unterlegt. Systemtheoretisch gesprochen: In der Ökonomie gehe es einzig und allein um „zahlen – nicht-zahlen“, in der Wissenschaft um „wahr – nicht-wahr“ und so weiter.
Die Systemtheorie Luhmanns, sie wird in Nassehis Buch zum Autoritätsargument. Die Leser*innen müssen schlicht glauben, was Nassehi als ausgewiesener Systemtheorie-Experte voraussetzt. Und auch die Grundfigur der Verdopplung – wir finden alles, was es in der analogen Welt gibt auch in der digitalen wieder – ist vielleicht nur auf den ersten Blick plausibel. Eine entscheidende Frage, wie denn die Ereignisse, Erfahrungen und geschichtlich-gesellschaftlichen Widersprüche aus der analogen Welt zu Daten der digitalen werden, bleibt völlig offen.
Worauf läuft all das hinaus? Am Ende des Buches gibt es einen entlarvenden Satz: „Wenn man es genau nimmt, hat sich alles geändert, und es bleibt alles beim Alten.“ (S. 324) Der Autor scheint fast erstaunt zu sein über das Ergebnis seiner Arbeit, vor allem, weil er doch verspricht, dass auf dem von ihm vorgeschlagenen Weg die (Komplexitäts-)Probleme der Gesellschaft gelöst werden könnten. Eine Linke brauche es ja nicht mehr. Vielleicht kann oder will er nicht verstehen, dass die „Bordmittel der Gesellschaft“ (eine Formulierung von ihm in einem taz-Interview) nicht ausreichen, um die Probleme zu lösen, aus dem simpel logischen Grund, weil sie dann ja nichts anderes als die Ableitungen des Gegebenen sind und „doch alles beim Alten“ bliebe. In einer solchen Gesellschaft wird die Klimakatastrophe durch Resilienz verwaltet, eine nicht mehr gebrauchte Linke unter Extremismusverdacht gestellt und ein Strudel sich überschlagender digitaler Revolutionierungen erzeugt kontinuierlich neues Material zur Kapitalverwertung.
Zusätzlich verwendete Literatur
Joseph Weizenbaum 1978: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Suhrkamp, Berlin.
Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft.
C.H. Beck, München.
ISBN: 978-3-406-74024-4.
352 Seiten. 26,00 Euro.