Revolte zwischen Wut und Stagnation
- Buchautor_innen
- Kollektiv Rage (Hg.)
- Buchtitel
- Banlieues
- Buchuntertitel
- Die Zeit der Forderungen ist vorbei
Das Buch beschreibt nicht nur anhand von Interviews, wie es zu den Aufständen 2005 in Frankreich gekommen ist, sondern liefert eine umfassende Analyse von Kontinuitäten, Prekarität, Kultur und Genderthematiken.
„Es gab keine politischen Forderungen. Es gab keine politische Repräsentation. Es gab keine politischen Organisationen. In dieser Weigerung, politische – also verhandelbare – Forderungen aufzustellen, in der Ablehnung politischer Repräsentanz und politischer Organisationsformen, in ihrer politischen Nichtvermittelbarkeit lag aber die eigentliche Radikalität der Aufstände, weit mehr als in der militanten Auseinandersetzung mit den Staatsorganen oder den Angriffen auf Behörden und dem Abfackeln von Autos.“ (S. 9)
Dieses Zitat des Herausgeber_innenkollektivs zeigt eindringlich die Spezifität der französischen Revolte 2005, da sie nicht geleitet oder organisiert wurde, und keine Forderungen mit ihr einhergingen, sondern es vielmehr die Wut einer ganzen Generationen war, die sich auf der Straße entlud. Wie es dazu kam, was für Ursachen und Vorläufer, aber auch historische Kontinuitäten es gibt, zeigt dieses Werk meiner Meinung nach herausragend auf. Hierbei wird auch ein Blick über den analytischen Tellerrand gewagt, verschiedene Textformen miteinander kombiniert und auf die Interdependenzen von Herrschaft und geographischem Raum eingegangen.
„Banlieues. Die Zeit der Forderungen ist vorbei“ enthält dreizehn Beiträge, wobei drei davon Interviews mit französischen Soziolog_innen als auch mit einem Bewohner aus der Pariser Banlieue sind, die für sich selbst sprechen. Herausstechendes und großartiges Merkmal das Buches ist es, dass es eben nicht nur um die Banlieues geht, sondern auch um Prekarität und Genderfragen, die zuvor häufig nur eindimensional thematisiert worden sind. Aber vor allem erläutert es die Umstände der Bewohner_innen in den Vorstädten und stellt dabei die Zusammenhänge von Stadtpolitik, Repression und einer Ethnisierung des Diskurses da.
Staatliche Repression und stadtpolitische Sicherheitsdiskurse
Hauptziele der meist jugendlichen Banlieue-Aufständischen 2005 waren neben Autos vor allem Schulen und die Polizei. Beide Institutionen verkörpern eine staatliche Kontrollfunktion, jedoch auf unterschiedliche Art und Weise. In einem Interview mit dem französischen Soziologen Laurent Mucchielli erklärt dieser in Bezug auf die Polizei:
„Sie [die Jugendlichen in den Banlieues, p.p.] kritisierten zunächst, wie die Polizei täglich mit ihnen umspringt, die Tatsache, dass sie jeden Tag auf aggressive, beleidigende Weise kontrolliert werden. Diese ständigen Auseinandersetzungen mit der Polizei sind zum Symbol für ihre Situation, ihre Unterdrückung geworden.“ (S. 51)
Er geht außerdem darauf ein, dass gerade die Frage nach politischer Repräsentation in den Vorstädten eine entscheidende Rolle spielt – denn der Verweis auf eine „universalistische“ Republik verschleiere Diskriminierung anstatt gegen diese vorzugehen, was sich gerade im Bezug auf rassistische Stereotypisierungen zeigt. Denn die Unruhen selbst haben laut Mucchielli keinen „ethnischen“ Charakter, sondern sind vielmehr eine Frage der geographischen Verteilung und einem Prozess der Ghettoisierung und Verarmung ganzer Stadtviertel.
Ergänzend zu Mucchiellis Analyse lässt sich auch Emanuelle Piriots Beitrag „Die Banlieue als politisches Experimentierfeld des französischen Staates“ lesen. Um gegen Ghettoisierung vorzugehen, setzen Politik und Stadtplanung auf eine „soziale Durchmischung“ der Viertel. Auch hierbei zeigt sich eine Ethnisierung des Diskurses, beispielsweise wenn von dem Zusammenhang von Kriminalität und Immigration in den Banlieues gesprochen wird. Hervorzuheben ist hierbei auch die Feststellung der Autorin, dass diese vermeintlichen Zusammenhänge auch medial geschürt werden und das Bild von unsicheren und angeblich rechtsfreien Räumen in den Mittelpunkt rücken - es wird also immer wieder ein Bedrohungsszenario durch die Banlieue suggeriert.
Diesem Bild wiederspricht jedoch stark der sicherheitspolitische Einsatz von Polizeibeamten oder Antikriminalitätsbrigaden in den Vorstädten selbst, denn eine so hohe Polizeipräsenz und – Kontrolle lässt nur wenig Spielraum für angebliche Rechtsfreiheit, wie auch Max Henninger in „Der Unterschied, auf den es heute ankommt“ beschreibt. Eine weitere Kontrollfunktion findet sich außerdem in der Zusammenarbeit von Polizei und Sozialarbeit, beispielsweise, um Daten von Personen zu erfassen, die als „ordnungsgefährdend“ eingestuft werden (S. 134). Henninger zeigt diesen Aspekt der Sicherheitspolitik sehr gut auf und fügt es in eine Situationsanalyse ein, welche die Hintergründe der jugendlichen Banlieue-Bewohner_innen zwischen Überwachung und Exklusion darstellt.
Doch solch ein Versuch der staatlichen Kontrolle über Räume findet sich nicht nur in Frankreich, sondern auch in der BRD. Steen Thorsson geht in „No Go Areas in Berlin: Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“ tiefergehend darauf ein, dass sich eine neue „Technik des Regierens auf lokaler Ebene“ (S. 230) skizzieren lässt. Dies zeigt sich durch Versuche, eine Zivilgesellschaft von oben zu etablieren und staatliche Funktionen auf ehrenamtliches Engagement oder aber private Dienstleister_innen zu übertragen, um so den Bewohner_innen das Gefühl zu geben, individuell verantwortlich zu sein, als beispielsweise Gründe bei stigmatisierender Stadtpolitik zu suchen. Am Beispiel des Berliner Stadtteils Wedding und dem dort agierenden Quartiersmanagement zeigt Thorsson auf, dass diese einerseits bestehende soziale, infrastrukturelle und ökonomische Defizite bearbeiten sollen, andererseits aber auch eine Ökonomisierung bestehenden „Potenzials“ herbeigeleitet werden soll, um die Kieze „attraktiver“ zu machen. Die Zusammenarbeit von Polizei, Quartiersmanagement, dem Jobcenter, Arbeitgeber_innen und Vereinen spannt dabei ein Netz, welches die Widerspenstigkeit der Kieze bändigen soll. Dies wird ergänzt durch neue Kontroll-, Ordnungs- und Sicherheitsmaßnahmen, die die Regulierung öffentlicher Räume durch den Ausschluss von Wohnungslosen, Jugendlichen, Menschen ohne Erwerbsarbeit, Migrant_innen und Prostituierten vorantreibt. Henninger ergänzt seien Analysen und ausführliche Darstellung der Zusammenhänge durch Interviews mit Bewohner_innen und zeigt auch Perspektiven auf, die eine linke Praxis mit sich bringen sollten.
Entwicklung und Ausgrenzung
Ingrid Artus analysiert in „Die Novemberrevolte in den französischen Banlieues – Blinde Wut oder soziale Bewegung?“ die Dynamiken und Besonderheiten der Revolte in 2005. Hierbei beschreibt sie den Auslöser des drei Wochen anhaltenden Aufstandes, die Umstände des Todes von Bouna und Zyed, die vor einer Polizeikontrolle in eine Hochspannungseinrichtung geflüchtet waren, ebenso wie die Reaktionen der Anwohner_innen, die Demos organisierten und Autos in Brand setzten – und die Repression durch die Polizei, welche, anstatt ein Wort des Bedauerns über den Tod der Jungen zu äußern, Jugendliche auf der Straße weiterhin rassistische provozierten. Nach Artus lässt sich die Revolte in drei Phasen einteilen: Die Phase des lokalen Aufstandes in Clichy-sous-Bois und Montfermeil, die zweite Phase der Ausbreitung zu einer nationalen Revolte und die dritte Phase der Repression, das heißt die Ausrufung des Ausnahmezustandes in einigen Departements und insgesamt 5200 Festnahmen durch die Polizei, davon waren ca. 20% minderjährig. Doch dem stand auch ein anderes Bild gegenüber:
„Nach Bilanz des Innenministeriums gingen in dieser Zeit etwa 10.000 Autos in Flammen auf. Mehrere hundert öffentliche Gebäude wurden verwüstet; allein in der Pariser Region waren auch rund Hundert Privatunternehmen getroffen.“ (S. 31)
Zumindest die erste Phase ist laut der Autorin nichts Besonderes, gibt es doch seit den 1970er Jahren Kontinuitäten, was lokale Aufstände in den französischen Vorstädten betrifft. Gründe und Ursachen sind dabei vielfältig und finden sich in vielen Publikationen, über Medien bis hin zu soziologischen Analysen, wider – die Besonderheit und das Unvorhersehbare der 2005er Revolte jedoch war der Prozess der „kollektiven Identifikation“ der Aufständischen, welche in der Verbreitung über ganz Frankreich gipfelte. Artus widmet sich den drei Hauptgründen der Aufstände – soziale Deklassierung, Rassismus und räumliche Stigmatisierung – genauer, ohne dabei jedoch die Aufständischen zu schutzlosen Objekten zu machen, die nur Summe ihrer Marginalisierung sind. Hierbei stellt sie ganz klar das kapitalistische Gesellschaftssystem in ihrer Kritik heraus, da dieses zu Ausgrenzungserfahrungen führt und die Ideologie der Chancengleichheit als Lüge enthüllt.
Im Kapitel „Ich bin wütend und werde es bleiben“ kommen auf verschiedene Arten die Stimmen aus den Banlieues selbst zu sprechen. Es geht um revolutionäre Perspektiven aus den Stadtvierteln, aber auch um den eigenen Alltag, der literarisch durch einen Tag dargestellt wird, welcher aus verschiedenen Perspektiven nacherzählt, was im Viertel passiert. Da ist Sunny, der mit seiner Freundin in einer überteuerten Wohnung wohnt und aufgrund vermehrter rassistischer Beleidigungen seinen Job im Baumarkt kündigt. Und Malika, die putzen geht, um sich und ihre Kinder über die Runden zu bringen. Und es sind die Kontrollen, das Männlichkeitsgebaren der Bullen, die sich von den Jugendlichen auf der Straße in ihrer Autorität untergraben fühlen und mit Repression in Form von verdachtsunabhängigen Kontrollen reagieren – und vor der Gegenwehr zurückweichen müssen. Dies alles gibt einen Blick auf das Viertel und die Zusammenhänge, die die Menschen selbst zu Subjekten und nicht zu wortlosen Beisteher_innen machen.
Feministische Staatsräson?
Anne Brüggmann und Emanuelle Piriot beleuchten die Frage nach einer feministischen Blickweise auf die Banlieues und setzen sich dabei vor allem kritisch mit der Diskurshoheit der ni putes, ni soumises (NPNS – Weder Huren noch Unterworfene) auseinander. Sowohl die Entwicklung der Organisation, als auch die Opposition zu ihr wird dargestellt und neue Perspektiven aufgezeigt, die einen feministischen Einfluss aus den Banlieues deutlich machen. Die Autor_innen arbeiten heraus, dass die Thematisierung der Lebenssituationen von Frauen in den Banlieues durchaus wichtig ist, NPNS diesen Diskurs aber für eine Stigmatisierung der Banlieues missbraucht und die Vielfältigkeit weiblicher Akteur_innen vor Ort unsichtbar macht:
„Indem die Geschlechterfrage v.a. auf migrantische Frauen fokussiert wird, tragen feministische Forderungen dazu bei, unter Ausblendung ökonomischer Verhältnisse geschlechtsspezifische und rassistische Spaltungen zu vertiefen.“ (S. 183)
NPNS widmet sich dem Thema von sexualisierter Gewalt und Frauenunterdrückung in den Vorstädten, ohne dabei jedoch eine lokale Verankerung aufzuweisen, so die Autor_innen, und dient als „aggressives Befriedigungs- und Assimilationsobjekt“ (S. 186). Es ginge NPNS nicht um Emanzipation, sondern um einen republikanischen Pseudo-Feminismus, der die französischen Werte hochhält und so mehr Stigmatisierung schafft, als sie abzubauen.
Rap&Revolte
Das RuhrgebietsInternationalismusArchiv Dortmund (RIAD) setzt sich mit französischer Rapmusik, ihrem Einfluss auf die Banlieues aber auch dem Ausdruck eines dort entsprungenen Lebensgefühls auseinander. Französische Parlamentarier_innen forderten die strafrechtliche Verfolgung von sieben Rappern im November 2005, da diese direkt für die Unruhen in den Banlieues aufgrund ihrer hasserfüllten Texte verantwortlich gemacht werden sollten. RIAD zeigt anhand von Textauszügen die inhaltlichen Auseinandersetzungen und die politischen Dimensionen in den Raptexten (wobei die Frage offen bleibt, ob man sexistische Ausführungen erneut reproduzieren muss, nur weil sie als Waffe gegen den Staat gebraucht werden), aber auch die kulturelle Verankerung von Hip Hop und Rap in den Vorstädten. Hierbei werden auch weibliche Rapperinnen vorgestellt, die sich gegen den Sexismus ihrer Kollegen, Homophobie oder häusliche Gewalt wenden, und darauf eingegangen, dass es auch jenseits des Brutalo-Rap haarscharfe Analysen gibt. „Rap war nicht Auslöser der Revolte, aber die Gedanken und Gefühle der Revoltierenden waren durch Rapmusik geprägt“ (S. 224) erklärt RIAD im Fazit und führt darin auch aus, inwieweit sich durch Rap auch über die Lebensumstände in den Banlieues lernen lässt, jenseits von antisemitischen, homophoben und sexistischen Darstellungen.
Neben den beschriebenen Texten gibt es eine Chronik der Ereignisse von Bernhard Schmidt und weitere Analysen und Interviews. Ich habe das Buch zu unterschiedlichen Zeitpunkten (kurz nach Erscheinung, nach den Riots in London 2011) gelesen und bin noch immer der Meinung, dass es eine der besten Textsammlungen zu dieser Thematik ist, in seiner textlichen Vielfältigkeit unglaublich perspektivenreich und gleichzeitig analytisch, ohne durch zu stark akademisierte Sprache zu erschlagen.
Banlieues. Die Zeit der Forderungen ist vorbei.
Assoziation A, Hamburg.
ISBN: 978-3-935936-81-1.
280 Seiten. 16,00 Euro.