Pionierarbeit trotz eingegrenzter Perspektive
- Buchautor_innen
- Open Society Institute (Hg.)
- Buchtitel
- Justice Initiatives
- Buchuntertitel
- Ethnic Profiling by Police in Europe
Eine ausgezeichnete Grundlage für die Auseinandersetzung mit rassistischer Polizeipraxis.
Als die Open Society Justice Initiative ihren Bericht „Justice Initiatives“ im Jahr 2005 vorlegt, wird zum ersten Mal systematisch die Tragweite und Auswirkung von Racial Profiling in Europa beleuchtet. Der Bericht vereint Aufsätze verschiedener Autor_innen und ist in drei Themenschwerpunkte gegliedert: 1. Racial Profiling in Europa, 2. Möglichkeiten der Beobachtung und Messung von Racial Profiling, und 3. Fallstudien aus der Polizeipraxis in den USA und im UK. Während der erste Schwerpunkt einen Überblick zum Thema gibt, beschäftigen sich Letztere mit ausgewählten Perspektiven auf die Praxis. Da der Themenschwerpunkt „Ethnic Profiling in Europe“ den Versuch unternimmt, die Praxis in Europa in ihrem Ausmaß zu bestimmen und zusammenhängende rechtliche Aspekte darzustellen, soll er im Folgenden besprochen werden.
Racial Profiling im Rahmen (europäischer) Absichtserklärungen
Alle Aufsätze zeichnen sich durch die Verwendung des Begriffs „Ethnic“ statt „Racial Profiling“ aus. Dies ist auffällig, wird doch Letzterer von Aktivist_innen zur Skandalisierung der Praxis gebraucht. Die Open Society Justice orientiert sich demgegenüber an Forderungen von Menschenrechtsinstitutionen und -organisationen und jene verwenden in ihren Positionspapieren den Begriff des „Ethnic Profiling“. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Deutungsmacht der Begriffe findet sich nicht.
Den Beginn in der Aufsatzsammlung bildet der Artikel „Introduction. Toward a Europe without Ethnic Profiling“ von James Goldstone. Er betrachtet Racial Profiling im Licht des Europäischen Rechts auf dem Stand des Jahres 2005. Für ihn fordert die Praxis drei Rechtsgebiete heraus: Das Anti-Diskriminierungsrecht, Rechtsgrundlagen der Polizeiarbeit bei Kriminalitätsprävention und Strafverfolgung sowie das Datenschutzrecht – insofern eine Erfassung personenbezogener Daten zur Darstellung polizeilicher Personenkontrollen vorgesehen ist. Auch bietet er eine Definition an:
„By ‚ethnic profiling’ I refer to the use of racial/ ethnic stereotypes, rather than individual behavior, as a basis for making law enforcement and/ or investigative decisions about who has been or may be involved in criminal activity.” (S. 7)
James Goldstone erinnert daran, dass sich der Charakter von Racial Profiling in den USA und Europa seit dem 11. September 2001 verändert hat. Waren früher insbesondere Schwarze Menschen, Hispanics und Roma betroffen, gerieten nun auch zunehmend junge Muslim_innen in das Zentrum polizeilicher Ermittlungen und Sicherheitskontrollen. Im Zuge einer vermeintlichen Antiterrorgesetzgebung wurde Racial Profiling zunehmend von der Öffentlichkeit toleriert. Jahrelange Kampagnenarbeit gegen die Praxis verlor immer mehr an Boden. Auf der anderen Seite beschäftigten sich verschiedene Europäische Institutionen mit Racial Profiling. So stärkte die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) die Garantie der Nicht-Diskriminierung im Bereich der Strafjustiz. Auch die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) forderte in einem Dokument aus 2004 die Einhaltung des Antidiskriminierungsgrundsatzes bei Kontrollen innerhalb von Staaten und an den Grenzen. Auch der Europäische Polizeiethikkodex aus 2001 deklarierte, Polizeiarbeit solle sich von Unvoreingenommenheit und Nicht-Diskriminierung leiten lassen. Einen regelrechten Meilenstein bildete der 2000 in UK reformierte „Race Relation Act“, der das bestehende Verbot rassistischer Diskriminierung ausweitete auf das Verhalten von Personen in Öffentlichen Ämtern, einschließlich Polizei und Regierungsstellen.
Nachtrag: Im Jahr 2007 legte ECRI ein Dokument über die „Bekämpfung von Rassismus und Rassendiskriminierung in der Polizeiarbeit“ vor, das Racial Profiling ausdrücklich ächtet und Maßnahmen zur Bekämpfung der Praxis empfiehlt. Allerdings sind diese Dokumente, ebenfalls wie der Europäische Polizeiethikkodex, rechtlich für das Handeln der Polizei nicht bindend. Lediglich die Rechtsprechung des EGMR verpflichtet Nationalstaaten, rechtliche Änderungen vorzunehmen. Für die BRD wurden hier bis heute keine Verfahren gegen Racial Profiling geführt. Auch das 2006 verabschiedete „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“ ist in seinem Anwendungsbereich nicht auf Polizeibehörden übertragbar. Vielmehr stärken lokale Rechtsbezüge mit ihren Möglichkeiten polizeilicher „anlass- und verdachtsunabhängiger“ Personenkontrollen die Praxis von Racial Profiling. Im Februar 2012 bestätigte das Verwaltungsgericht Koblenz gar die Rechtmäßigkeit von Kontrollen aufgrund rassialisierter Hautfarbe hierzulande.
Das erschreckende Ausmaß von Racial Profiling in Europa
Die Aufsätze von Misti Duvall („Evidence of Ethnic Profiling in Selected European Countries“) und Iulius Rostas („ID Checks and Police Raids. Ethnic Profiling in Central Europe”) beschäftigen sich mit Berichten über Racial Profiling, die zusammengetragen wurden von Nichtregierungs- und Menschenrechtsorganisationen.
Misti Duval stellt für die Situation in Frankreich fest, dass insbesondere Muslime, Roma und Jugendliche nicht-europäischer Herkunft in urbanen Zentren von Racial Profiling betroffen sind. So werden in Moscheen Predigten überwacht, Roma Communities mit brutalen und beleidigenden Razzien überzogen und Jugendliche im Rahmen von Identitätskontrollen misshandelt. Verschiedene Organisationen, wie die International Helsinki Foundation (IHF), das European Roma Rights Center (ERRC), Amnesty International (AI) und die National Commission of Deontology and Security (CNDS) sowie Anwält_innen, berichten von diskriminierendem Profiling, Beleidigungen, psychischen und verbalen Angriffen, der Zerstörung von Eigentum, Überwachung ganzer Wohngebiete, Bedrohungen durch Waffeneinsatz, Erniedrigung und gewaltsamen Räumungen. Die Vorstellungen von Imamen als Terroristen, Roma als Delinquenten und Jugendlichen als Randalierer_innen seien allgegenwärtig. Das Committee on the Elimination of Racial Discrimination (CERD) erkennt 2001 in der fortdauernden rassistischen Diskriminierung die Folge einer Gesetzgebung, die Ausländer_innen zum Verlassen des französischen Territoriums „motivieren“ sollen.
In Deutschland praktiziert die Polizei seit Jahren aktiv Racial Profiling. Betroffen sind insbesondere Schwarze Menschen, Roma und – seit dem 11. September 2001 – auch Muslime. Die IHF, AI, der Zentralrat der Muslime und das EU Monitoring and Advocacy Program (EUMAP) berichten, dass Menschen auf dem Weg zur Moschee kontrolliert, Razzien durchgeführt, Muslime überwacht, deren Daten gesammelt und gespeichert sowie Hausdurchsuchungen und Verhöre durchgeführt werden. Auch gibt es Beschwerden, dass Schwarze Menschen an Bahnhöfen und Flughäfen unverhältnismäßig häufig polizeilichen Maßnahmen unterworfen sind. Sinti und Roma berichten von Gewalt und Misshandlungen. CERD führt Hinweise zu Rassismus in Polizeiwachen und polizeilichem Fehlverhalten. ECRI empfiehlt der BRD endlich Maßnahmen zur Bekämpfung der rassistischen Diskriminierung zu ergreifen, das heißt Daten zu erheben um Aspekte direkter und indirekter Diskriminierung abbilden zu können, eine unabhängige Kontrollinstanz zu errichten, Antirassismustrainings durchzuführen und People of Colour in den Polizeidienst aufzunehmen. Die Berichte zu Italien, Spanien und Schweden lesen sich ähnlich.
Iulius Rostas zählt detailliert Berichte über rassistische Polizeigewalt gegenüber Roma und ihren Nachbarschaften in Ungarn auf. In Rumänien sind – insbesondere nächtliche - Razzien in Roma-Nachbarschaften stark verbreitet. Ein wirksamer Rechtsschutz bestünde für die Betroffenen in der Regel nicht. Aus Tschechien berichtet er, dass Ermittlungen gegen Mitglieder der Strafverfolgungsbehörden verschleppt werden und sich öffentlicher Kontrolle entzögen. Und in der Slowakischen Republik würden Polizist_innen Roma schikanieren und missbrauchen. Rostas erkennt in diesen Berichten über Racial Profiling einen sichtbaren und verbreiteten Ausdruck von Antiziganismus und analysiert die Praxis vor diesem Hintergrund. Zu Recht weist er auf die jahrhundertealte Kriminalisierung von Roma als „Fahrende“, „Gesetzlose“, „Bettler“ und „Ungläubige“ in Europa hin. Erwähnt wird auch die negative Repräsentation von Roma in populärer Kultur.
Allerdings war die begrenzte Reichweite der Wirksamkeit vieler Ideen zur Bekämpfung rassistischer Diskriminierung in den Strafvollzugsbehörden 2005 noch nicht dokumentiert. Mittlerweile zeigen Untersuchungen aus dem UK, dass Dokumentation, Trainingsmaßnahmen und die Rekrutierung von PoC in den Polizeidienst wenig Effekte auf die rassistische Polizeipraxis haben. Die BRD lässt überdies bis heute eine unabhängige Kontrollinstanz vermissen. Die Betroffenen rassistischer Polizeipraxis leiden weiterhin unter ihrer Kriminalisierung. Systematische Beratungs- und Unterstützungsangebote fehlen vielerorts.
Datenerhebung im Spannungsfeld von Persönlichkeitsschutz
Der Aufsatz von Ben Hayes informiert über die Möglichkeiten der Datenerhebung im Rahmen der Polizeiarbeit. Dies zum Einen hinsichtlich einer kritischen Regulierung von Datenerhebung und -weitergabe durch Strafverfolgungsbehörden und zum Anderen zum Zweck der Darstellung des Ausmaßes von Racial Profiling. Bereits 1981 hat das Council of Europe (COE) in einer bindenden Konvention Prinzipien zum Datenschutz festgelegt, denen zufolge die Verarbeitung von Daten mit Bezug auf „Ethnie“, politische Überzeugung, religiöse oder andere Weltanschauung sowie Gesundheit und sexuelle Orientierung verboten worden sind. Allerdings formulierte sie auch Ausnahmen hinsichtlich der Anwendung der Schutzprinzipien im Falle der Sicherung der nationalen und öffentlichen Sicherheit, der Sicherung wirtschaftlicher Interessen und der Zerschlagung krimineller Angriffe.
Da sich die Konvention nicht explizit auf die Polizeiarbeit bezog, formulierte das COE 1987 eine Empfehlung für ebenjenen Sektor. Demnach sollten Datenerhebungen unabhängig überwacht, Grenzen zu Sammlung, Speicherung und Gebrauch formuliert, Einschränkungen des Datenaustauschs festgelegt sowie Datenkategorien zur „ethnischen Herkunft“ strikt geregelt und nur auf einzelne Anfragen hin erhoben werden. Spannend ist, dass die Empfehlungen nicht bindend waren, sondern freiwillig umgesetzt werden konnten. Entsprechend kritisierten Datenschützer_innen die unzureichende Implementierung der Regeln in nationales Recht. Eine Europäische Direktive zum Datenschutz aus 1995 nimmt keinen Bezug auf COE. Eine reformierte Fassung aus 2001 wurde nie verabschiedet, eine eingesetzte Arbeitsgruppe entlassen. Dieser völlige Stillstand spiegelt den immensen Widerstand einiger Mitgliedstaaten an der Ausarbeitung wirksamer Regelungen zum Datenschutz in der Arbeit der Strafverfolgungsbehörden wider. Auch der Artikel 8 zum Schutz personenbezogener Daten der Europäischen Grundrechtecharta ermöglicht nationalstaatlichen Behörden Ausnahmeregelungen vom Datenschutz.
Dessen völlig ungeachtet argumentieren viele nationalstaatliche Polizeibehörden, sie könnten keine Daten im Rahmen ihrer Arbeit erheben, mit Hinweis auf den Datenschutz. Dabei wurden im UK Datensammlungen eingeführt, die das Ausmaß von „stop and search“-Aktivitäten durch die Polizei abbilden und gleichzeitig die Festlegungen der Europäischen Direktive, als auch nationale Regelungen zu Forschung und Census einhalten. Demnach sind die Daten in einer Form anonymisiert, in der Einzelpersonen nicht wiedererkennbar sind. So werden „stop and search“-Maßnahmen aufgezeichnet hinsichtlich ihrer Gründe, Ergebnisse und der selbstdefinierten „ethnischen Identitäten“ der Betroffenen. Eine Kopie der Aufnahme muss der Person, die angehalten wurde, ausgehändigt werden. Allerdings ist Deutschland diesem Beispiel bisher nicht gefolgt mit Hinweis auf datenschutzrechtliche Vorbehalte.
Strategien im Kampf gegen Racial Profiling für Kampagnen
Stephen Huphreys Artikel reflektiert die Erfahrungen von Kampagnen in den USA im Kampf gegen Racial Profiling und fragt nach Lehren für Europa. Er warnt davor, über die geringe Effizienz von Racial Profiling in der Kriminalitätsbekämpfung zu argumentieren und stellt zu Recht die Frage, ob die Praxis richtiger wäre bei einer höheren „Trefferquote“. Pointiert stellt Huphreys fest, dass Racial Profiling einen Effekt von Gesetzen darstellt und nicht Grund der Gesetze sei. Er kritisiert, dass systematische Erhebungen zur ethnisierten Struktur des Strafrechtssystems in ganz Europa fehlen. Er empfiehlt eine rigorose Forschung, einen möglichst breiten Fokus, um auch weiterreichende Aspekte von Racial Profiling zu erhellen.
Der Schwerpunkt „Ethnic Profiling in Europe“ des Berichts „Justice Initiatives“ zeichnet sich insbesondere durch ein komplexes Verständnis von Racial Profiling aus. Anstatt sich auf Kontrollmaßnahmen zu beschränken, wird dieses eher im Sinne eines institutionellen Rassismus ausgelegt. Damit wird Racial Profiling als in der Organisation der Strafverfolgungsbehörden verankerte diskriminierende Praxis verortet, die rassistische Kriminalisierung forciert, reproduziert und rassialisierte Gesetzgebung legitimiert. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Ausmaß der Praxis und deren Bekämpfung, wurde in der BRD von offizieller Seite bislang vollständig verweigert. In diesem Sinne stellt der Bericht eine brauchbare Argumentationsgrundlage für Kampagnen dar.
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Die Broschüre ist online hier verfügbar.
Justice Initiatives. Ethnic Profiling by Police in Europe.
Open Society Institute, New York.
100 Seiten.