Performativität in der Akademie
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Erika Fischer-Lichte liefert einen zugänglichen Einblick in theatrale Theorien der Performativität.
Wie bei ihrem Standard gewordenen „Ästhetik des Performativen“ (2004a) erläutert Erika Fischer-Lichte das Problemfeld zunächst exemplarisch. Ausgehend vom Unverständnis der Rezeption für die Performanz von Gertrud Eysold in der Rolle der Elektra (Inszenierung von Max Reinhard am 30.10.1903) zeigt die Autorin wie das ungewöhnliche Spiel der Schauspielerin einen Bruch zu den vorigen Auffassungen von Theater als Illusion beziehungsweise Körper als Rollenträger stellte. Interessant ist dabei der Hinweis auf die Überforderung der Theaterkritik, welche Eysolds neuartige Leiblichkeit mit Begrifflichkeiten aus der Medizin (zum Beispiel „pathologisch“) und der bildungsbürgerlichen Moral (zum Beispiel „Würde“) zu erfassen suchte. Es folgt eine historische Kontextualisierung anhand derer die tragenden Tendenzen des performative turn dargelegt werden, wobei die Autorin hier zugleich transparent macht, worauf sie sich bezieht zum Aufbau des eigenen Konzepts von Performativität.
Begriffserläuterung
Mit den unumgänglich gewordenen Arbeiten von John L. Austin und Judith Butler streift Fischer-Lichte Ansätze aus der Ethnologie (Arnold van Gennep, Victor Turner, James Frazer), Philosophie (Merleau-Ponty, Helmuth Plessner, Sybille Krämer), Theaterwissenschaften (Max Herrmann, Joachim Fiebach, Sybille Krämer) und der Performance Studies (Richard Schechner). Wer nach einer bündigen Begriffserläuterung von Performativität sucht, wird allerdings enttäuscht denn davon schlägt Fischer-Lichte mehrere vor:
„Der Begriff bezeichnet bestimmte symbolische Handlungen, die nicht etwas Vorgegebenes ausdrücken oder repräsentieren, sondern diejenige Wirklichkeit, auf die sie verweisen, erst hervorbringen. Sie entsteht, indem die Handlung vollzogen wird. Ein performativer Akt ist ausschließlich als ein verkörperter zu denken“ (S. 44)
Daraufhin verweist die Autorin auf die dreiteilige Definition von Sybille Krämer in ein schwaches (in dem jemand spricht, gestikuliert, also etwas tut), ein starkes (in dem das Gesagte zugleich vollzogen wird) und ein radikales Konzept (in dem „die Grenzen von dichotomischen Klassifikationen, Typologien und Theorien auf[ge]zeigt“ und unterlaufen werden). Auch Bildern kann Performativität zugesprochen werden,
„insofern sie über die Fähigkeit verfügen, auf die sie Betrachtenden leiblich einzuwirken und in ihnen physiologische, affektive, energetische, und motorische Veränderungen auszulösen, wobei offensichtlich der Verschränkung von Wahrnehmung, Imagination, Erinnerung eine besondere Bedeutung zukommt, mit der die jeweilige Wirklichkeit konstituiert wird, auf die sich die Veränderungen beziehen“ (S. 128f)
Performativität könne schließlich durch ihre Eigenschaften der „Unvorhersehbarkeit“ (wodurch Performanz/Aufführung sich von einer geplanten Inszenierung unterscheidet), der „Ambivalenz“ (und dessen destruktiven beziehungsweise produktiven Charakter), der „Wahrnehmung“ und der „transformativen Kraft“ definiert werden.
Gliederung
Es gäbe viele Möglichkeiten sich solch heterogenem Theoriebündnis wie die des Performativen zu nähern. Die zwei berühmtesten dürften die aus den Sprachwissenschaften entnommenen Herangehensweisen einer diachronischen Darstellung einerseits (also die Untersuchung der Entwicklung von Forschungsgegenständen durch unterschiedliche epochale, auktoriale etc. Kontexte) und die synchronischen Darstellungen andererseits (das heißt die Untersuchung von normativen Strukturen in einem eingeschränkten Rahmen) darstellen. Fischer-Lichte entscheidet sich für einen dritten Weg, in dem beide Strategien abwechselnd eingesetzt werden.
In der Einleitung wird die Entstehungsgeschichte des Terminus performativ aus der Konvergenz von soziokulturellen (neue Körperkultur um 1900, theatrale Avantgarde) und akademischen Phänomenen (Autonomisierung der Theaterwissenschaft aus der Literaturwissenschaft, Emergenz von Ethnologie, wobei deren Funktion im kolonialen Diskurs nicht thematisiert wird) beschrieben. Der erste Teil dient der Erläuterung der Begriffe Aufführung/Performance hinsichtlich ihrer medialen Bedingungen, ihrer Materialität, ihrer Ereignishaftigkeit sowie der Wahrnehmung und Bedeutungserzeugung (S. 68). Die Ausführungen fundieren dabei als populäre Fassung des Buches „Ästhetik des Performativen“ (2004a) sowie ihres Aufsatzes „Einleitende Thesen zum Aufführungsbegriff“ (2004b).
Im zweiten Teil wird Performativität hinsichtlich ihrer Eigenschaften, also „Unvorhersehbarkeit“, „Ambivalenz“, „Wahrnehmung“ und „transformative Kraft“ an unterschiedlichen kulturellen Erscheinungen erprobt. Die Wahrnehmung wird als performativer Prozess beschrieben, in dem eine Ökonomie der Aufmerksamkeit sowie ein Zusammenspiel zwischen Imagination, Erinnerung und Reflexion am Werk sind. Die Wahrnehmung von Gegenständen kann in diesem Sinne als ein performativer Akt aufgefasst werden. Denn es wird von keiner vorausgesetzten Wirklichkeit ausgegangen, sondern „vielmehr wird sie erst im Prozess der Wahrnehmung in der besonderen Begegnung zwischen diesem wahrnehmenden Subjekt und diesem wahrgenommenen Bild oder Text konstituiert“ (S. 110). Im letzten Unterteil werden die durch Aufführungen generierten Veränderungen bei den Zuschauer_innen ergründet. Nach der Etablierung von Parallelen zwischen Wettkämpfen, Gerichtsverfahren, PerformanzKünsten und theatralen Aufführungen, weist Fischer-Lichte auf eine lang zurückliegende Wirkungsästhetik von Aristoteles bis zu Hermann Kappelhof über Rousseau, Diderot und Lessing hin.
Der dritte Teil ist der Frage, „wie Unvorhersehbarkeit, Ambivalenzen und die transformative Kraft des Performativen sich in Texten, Bildern und Dingen ereignen und auswirken“ (S. 134), gewidmet. Untersucht werden Verfahren, mit denen literarische Texte „eine neue, ihre eigene, Wirklichkeit konstituieren, und (…) wie sie durch diese Wirklichkeit auf ihre Leser einzuwirken vermögen“. Kernaussage der Performativität von Texten ist der enge Zusammenhang zwischen struktureller Performativität, welche „die Aufmerksamkeit auf die Ebene des discours, des Erzählens, also der Vermittlungsebene zwischen Text und Leser [lenkt]“ und funktionaler Performativität, welche hingegen „die Wirkungen und Dynamiken, die ein Text an der Schnittstelle mit seinem Rezipienten entfaltet [bezeichnet]“ (S.139). Im zweiten Unterteil werden die subjektiven (Sehen und Blicken) und institutionellen Bedingungen (religiöse Räume, öffentliche Räume, museale Räume und akademische Räume) eines gelungenen Blickaktes dargelegt. In Bezug auf die Performativität der Dinge schlägt Fischer-Lichte eine fünfteilige Untersuchung nach heiligen, Gebrauchs-, Prestige-, musealisierten und vermüllten Dinge vor, anhand dessen die bereits erläuterten Hauptbegriffe zum letzten Mal erprobt werden.
Fazit
Generell lässt sich „Performativität. Eine Einführung“ gut lesen. Wer noch nie Fischer-Lichte gelesen hat, wird sich erstmal an ihren Schreibstil gewöhnen müssen; doch für alle Fälle wird jeder Teil noch am Ende synthetisiert. Als erster Kritikpunkt dürfte der völlige Ausschluss von Ansätzen aus den kritischen Kulturwissenschaften (Hall, hooks), den Postcolonial Studies (Kilomba, Spivak, el Tayeb) und deutschen Weißseins-Studien (Wachendorfer, Wollrad, Hornscheidt) benannt werden. Denn diese liefern bereits grundlegende Erkenntnisse für performative Untersuchungen, indem unter anderem epistemologische Mechanismen in ihrem Zusammenhang mit hegemonialen Machtstrukturen erfasst wurden. Der Bezug auf diese Fächer gebietet sich umso mehr, da die Mehrheit der theoretischen Referenzen aus kolonialen Fächern (vgl. Ethnologie) übernommen wird, jedoch ohne an ihre produktive Funktion im umfassenden kolonialen Diskurs zu erinnern. So entstehen problematische Aussagen wie etwa „die 60er Jahre (…) markieren das Ende des Kolonialismus“ (S. 28), Begriffe wie „Stammesgesellschaft“ und „Stammeskultur“ (S. 47) und Autoren wie Turner, von Gennep und Darwin werden selbstverständlich als Autoritäten vorausgesetzt.
Sehr problematisch ist die fehlende Definition dessen, was unter „Kultur“ verstanden werden soll. Fischer-Lichte erwähnt die Ansätze des Kulturanthropologen Milton Singer sowie der sowjetischen Kultursemiotiker Jurij Lotman und Vjatscheslav Ivanov als Beispiel einer Bestimmung von Kultur als „analog zur Sprache im Sinne eines Zeichensystems“ und die Definition des Kulturanthropologen Clifford Geertz, welcher besagt „dass ein Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei er dieses Gewebe als Kultur ansehe“ (S. 32). Von dorther wird nach Dynamisierungsprozessen gesucht, wodurch „Kultur“ anstatt als „Text“ nun als „Aufführung“ erfasst wird. Doch es findet weder eine Distanzierung zum umfassenden theoretischen Gerüst statt noch wird eine eigene Definition – wenn auch nur provisorisch – vorgeschlagen. Ohne diese Bestimmung läuft die Analyse von performativen Prozessen die doppelte Gefahr, einerseits eine einzige Wahrnehmungsperspektive als universal zu setzen und andererseits den soziokulturellen Rahmen, aus denen performative Erscheinungen entstanden, schlicht zu ignorieren, womit äußerst unglückliche theoretische Missstände entstehen können (vgl. Geschichte der Rassentheorie). Nichtsdestotrotz erfüllt das Buch seine Rolle als Einführung ins Thema und ist als solches lesenswert.
Zusätzlich verwendete Literatur
Fischer-Lichte, Erika 2004a: Ästhetik des Performativen. Suhrkamp, Frankfurt/Main
Fischer-Lichte, Erika 2004b:Einleitende Thesen zum Aufführungsbegriff. In: Erika Fischer-Lichte / Clemens Risi / Jens Roselt (Hg.): Kunst der Aufführung - Aufführung der Kunst. S. 11-26
Performativität. Eine Einführung.
transcript, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-1178-6.
240 Seiten. 19,80 Euro.