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Materialistische Analyse europäischer Migrationspolitik

Sehr schlichtes, schnörkelloses Buchcover. Der Titel "Kämpfe um Migrationspolitik" ist fettgedruckt hervorgehoben.
Buchautor_innen
Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa (Hg.)
Buchtitel
Kämpfe um Migrationspolitik
Buchuntertitel
Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung
In diesem Band stellt die Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ die Ergebnisse ihrer vierjährigen Arbeit vor und zeigt dabei eindrücklich den Nutzen materialistischer Staatstheorie und kritischer Europaforschung für das Verständnis der europäischen Migrationspolitik auf.

Während die Mitgliedstaaten der Europäischen Union noch weiter darum streiten, in welchen Bereichen sie nationalstaatliche Kompetenzen an die EU abtreten wollen, ist die Zusammenarbeit in einem Bereich längst sehr wirkmächtig: der Migrationspolitik. Die toten Flüchtlinge im Mittelmeer, die Menschen in den Abschiebeknästen und die in Europa illegalisiert lebenden Menschen sind auch ein Resultat dieser Zusammenarbeit. Die Erforschung der systematischen Funktionsweise dieser EU-Migrationspolitik sollte angesichts dieser alltäglichen Brutalität eines der brennendsten Erkenntnisprobleme für linke, kritische Wissenschaftler_innen sein. Umso erfreulicher ist die Arbeit der Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ um die Politikwissenschaftler_innen Sonja Buckel, John Kannankulam und Jens Wiesel, deren Ergebnisse nun im transcript-Verlag erschienen sind.

Im Gegensatz zu den in der Mainstream-Politikwissenschaft gerade üblichen Governance-Ansätzen, welche Migration nur als ein zu steuerndes Objekt politischer Führung begreifen und dabei in der Regel Herrschaftsverhältnisse ausblenden, arbeitet die Forschungsgruppe mit einer materialistischen Staatstheorie. Mithilfe der Ansätze von Althusser, Poulantzas und Gramsci begreifen sie den Staat als „ein materialisiertes soziales Verhältnis: ein Klassen- und Geschlechterverhältnis und auch ein Verhältnis zwischen den Staatsbürger_innen und ihren Anderen“ (S. 29) und gehen davon aus, dass der Staat jene vergeschlechtlichten, ethnisierten und Klassen-Subjekte erst hervorbringt, die im Governance-Ansatz als fixe und vorstaatliche Akteur_innen vorkommen und dadurch naturalisiert werden .

In beeindruckender Weise finden die Autor_innen einen Übergang von den komplexen theoretischen Überlegungen hin zu einer empirischen Methode. Aufbauend auf ihren hegemonietheoretischen Überlegungen entwickeln sie die Methode der „historisch-materialistischen-Politikanalyse“ (S. 43f.), durch die sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse sinnvoll analysieren lassen. Konkret bedeutet dies vor allem eine systematisierte Darstellung der Konfliktkonstellationen in konkreten Politikfeldern, Räumen und Zeiten. So werden Kontext, Akteure und Prozesse einzelner Bereiche einer Analyse unterzogen: Die Methode wird, erstens, in einzelnen Länderstudien angewendet (Deutschland, Großbritannien, Spanien), zweitens, zum Verständnis der Genese der europäischen Grenze nutzbar gemacht und, drittens, zur Analyse der Arbeitskraftregime verwendet. Durch diese Vorgehensweise wird deutlich, dass die eingangs genannte Zusammenarbeit keineswegs konfliktfrei funktioniert, sondern im Gegenteil geprägt ist von einer ganzen Reihe komplexer Kämpfe, die wiederum im Spannungsfeld verschiedener Kräfte- und Herrschaftsverhältnisse ausgefochten werden. Das im Zentrum der Analyse stehende politische Projekt des Migrationsmanagements – also die gesteuerte Einwanderung von für das Kapital nützlichen Arbeiter_innen bei gleichzeitiger Abschottung gegenüber allen Anderen – ist Resultat dieser Kämpfe, wird aber nicht widerspruchsfrei, und nicht in allen Mitgliedsstaaten gleichermaßen, umgesetzt. Gegen die Managed Migration steht beispielsweise das konservative Hegemonieprojekt, welches aufgrund rassistischer Ideologien Migration auch dann kritisch gegenübersteht, wenn es sich aus neoliberalen Nützlichkeitsüberlegungen heraus „lohnen“ würde. Zudem steht das konservative Hegemonieprojekt gegen ein gemeinsames europäisches Migrationsmanagement, weil es nach wie vor nur im geringen Maße bereit ist, nationalstaatliche Kompetenzen zu europäisieren. Die systematische Analyse der Kräfteverhältnisse in der Migrationspolitik macht aber auch deutlich, wie marginalisiert progressive Ansätze sind: Ein mögliches linksradikales oder kommunistisches Hegemonieprojekt verfügt über so geringe organisatorische Ressourcen und so wenig realpolitische Wirkung, dass es zwar eingangs von den Autor_innen umrissen wird, in den folgenden Analysen aber kaum mehr eine Rolle spielt. Das linksliberal-alternative Hegemonieprojekt, welches Menschen- und Bürger_innenrechte in den Mittelpunkt stellt, aber kaum Umverteilung und soziale Rechte im Blick hat und Grenzen nicht grundsätzlich in Frage stellt, geht dagegen häufig Hand in Hand mit dem neoliberalen Hegemonieprojekt: So zeigt etwa die Länderstudie der Bundesrepublik, wie erst die rot-grüne Regierung gegen massive konservative Widerstände zusammen mit dem neoliberalen Hegemonieprojekt die Migrationspolitik der BRD hin zu einer Managed Migration umbaute.

Ein – wenn auch geringes – Potential für gegenhegemoniale Politik macht die Forschungsgruppe auf dem juristischen Terrain aus: Reale, kleine Verbesserungen - etwa bei den Normen der im Juni 2013 verabschiedeten Dublin-III Verordnung zum Rückschiebeverbot in Mitgliedsstaaten, deren Asylsystem zusammengebrochen ist – seien in der Vergangenheit möglich gewesen, weil zivilgesellschaftliche Akteur_innen „die ganze Bandbreite europäischer Gerichte zu nutzen wussten“ (S. 251).

Die komplexe und differenzierte Analyse stellt auch die Tatsache heraus, dass die repressive Migrationspolitik keine Neuerfindung der EU ist und dass die nationalen Grenzpolizeien keineswegs rechtsstaatlicher oder humaner agieren als die europäische Grenzschutzagentur Frontex. Eine Politik gegen diese Zustände muss daher nach wie vor sowohl in den nationalen Gesellschaften agieren als auch den Widerstand weiter europäisieren. Die Arbeit der Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ zeigt dabei eindrücklich, wie hilfreich eine materialistische Analyse zum Verständnis des europäischen Grenzregimes ist. Ohne ein solches Verständnis der komplexen und widersprüchlichen Kämpfe um Migrationspolitik ist ein wirkungsvolles Engagement für globale Bewegungsfreiheit kaum vorstellbar.

Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa (Hg.) 2014:
Kämpfe um Migrationspolitik. Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung.
transcript, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-2402-1.
304 Seiten. 24,99 Euro.
Zitathinweis: Christoph Müller: Materialistische Analyse europäischer Migrationspolitik. Erschienen in: Radikale Soziale Arbeit?. 33/ 2014. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1229. Abgerufen am: 26. 04. 2024 09:49.

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Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa (Hg.) 2014:
Kämpfe um Migrationspolitik. Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung.
transcript, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-2402-1.
304 Seiten. 24,99 Euro.