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Leben als „Sein zum Tode“

Im Bildausschnitt sieht man einen Totenschädel, der Unterkiefer liegt auf einem Regalbrett daneben. Darunter findet sich eine Schrifttafel und am Rand davor ein Kerzenständer mit erloschener Kerze.
Buchautor_innen
Matthias Meitzler
Buchtitel
Soziologie der Vergänglichkeit
Buchuntertitel
Zeit, Altern, Tod und Erinnern im gesellschaftlichen Kontext
Welche Techniken und Strategien Menschen nutzen um sich der Endlichkeit des Lebens zu entziehen und welche Auseinandersetzungen mit der Vergänglichkeit dabei zutage treten, wird von Matthias Meitzler detailgenau beschrieben.

Die Zeit, das Altern, der Tod und schließlich auch Erinnerungen an Vergangenes sind konstruierte Aspekte einer Lebenswelt. Man lebt mit ihnen, notwendigerweise, man verdrängt sie oder kämpft dagegen an – und das inmitten der Gesellschaft. Keineswegs ist die Beschäftigung damit nur Thema der Naturwissenschaften, der Medizin oder der Metaphysik, wie viele behaupten, vielmehr „ist es jedoch gerade ihre feste, unauflösliche Einbettung in jene sozialen Praxen, in die Menschen alltäglich eingebunden sind, welche die besondere Relevanz von Zeit, Tod, Alterung und Erinnerung erst konstituiert“ (S. 9). In der heutigen Soziologie werden die Themen dennoch nur randständig beforscht, während sie in den Theorien der sozialwissenschaftlichen „Klassiker“ (von Max Weber über Emile Durkheim bis hin zu Pierre Bourdieu) noch zentral thematisiert wurden. An die historisch gewachsene Auseinandersetzung knüpft der Soziologe Matthias Meitzler an. Seine These, dass Vergänglichkeit vor allem eine soziale Erscheinung ist, begründet er mit Anleihen aus der Philosophie und der Kunstgeschichte. Das Vorwort der Studie schrieb Thorsten Benkel, der gemeinsam mit Meitzler auch die spezifischere „Soziologie des Todes“ – etwa auf Friedhöfen oder an Grabstätten – beforscht.

Das Leben als Ganzes ist vergänglich, aber auch Teilaspekte davon, zum Beispiel die Jugend, die Jahreszeiten oder soziale Beziehungen. Nichts sei für die Ewigkeit, wird postuliert, etwa in der ontologischen Brandmarkung Martin Heideggers, der das Leben als „Sein zum Tode“ beschreibt. Vergänglichkeit und Tod üben Unbehagen und Bedrückung, aber auch eine Faszination auf die Menschen aus und sind dabei untrennbar mit der obersten Wirklichkeit der Soziologie – der Alltagswelt – verbunden. Es sind Phänomene „an den Rändern des Sozialen“ (S. 7), denen sich niemand entziehen kann. Der Tod „entreißt der sozialen Umwelt ein Subjekt und gibt es nicht wieder her“ (S. 11) – dabei ist er an sich nicht das Skandalon, sondern die Selbstbetroffenheit der Einzelnen, die Trauer und Melancholie, die trotz des Wissens um die „Laufzeitbeschränkung“ (S. 12) der Individuen schon immer Folge des Sterbens war. Die Endlichkeit der Dinge ist dennoch keine negative und düstere Erscheinung: Vergänglichkeit, etwa einer Blüte, ist auch als Bedingung von Schönheit zu sehen; genauso, wie der Tod „als Bedingung für das Leben gelten kann“ (S. 278). Das Buch versteht sich als Annäherung an dieses wechselvolle Verhältnis. Der Autor schafft es, mit dem diesem Thema anhaftendem melancholischem Timbre, in Kapiteln zu Zeit, Alter, der Macht der Erinnerungen und dem Umgang mit Sterben und Tod unterhaltsam und lehrreich Denkanstöße zu geben.

„Die Zeit stockte und hielt den Atem an…“

Pascal Mercier lässt in seinem Buch „Nachtzug nach Lissabon“ den Protagonisten Mundus zurückblicken auf Zeiten, „in denen die Vergangenheit von uns abgefallen war, ohne dass die Zukunft schon begonnen hätte“ (Mercier 2008, S. 77). Ein imaginiertes Festhalten des Augenblicks, welches Meitzler im Kapitel über den unaufhaltsamen „Strom der Zeit“ (S. 23) aufgreift. Zentral ist die Darstellung der eigentlichen Absurdität von Zeitkonstrukten, die Fragilität von Augenblicken und die Geschichte der Zeit bis ins heutige Zeitmanagement. Angesprochen werden Aushandlungsprozesse um das „Diktat der Uhr“ in der Rolle als „soziale Regulierungsfunktionalität“ (S. 25) für die Entwicklung der kapitalistischen Zeitverwertungsökonomie. Die dadurch vorangetriebene (Selbst-)Ausbeutung der Werktätigen wird dabei nur randständig thematisiert – für diesen Aspekt greife man, so ein kleiner Hinweis, auf das Büchlein „Verschwende deine Zeit!“ von Julian Pörksen zurück, das sehr kurzweilig dem utilitaristischen Zeitverständnis der Warengesellschaft einen positiv verstandenen Begriff von Müßiggang und Zeitverschwendung entgegensetzt. Meitzler indes sieht Zeiteinheiten vor allem als Strukturen und Hilfsmittel, die Menschen das Leben in der „hochkomplexen Gesellschaft erleichtern“ (S. 33).

Übergangsriten und imaginierte Postmortalität

„Jeder will alt werden, aber keiner will es sein…“ (S. 90) lautet die Überschrift des Kapitels, das sich mit Zuschreibungen und Stereotypen des Alters beschäftigt. Sinniert wird über Alter und ab wann man alt „ist“ oder, wie Meitzler treffend bemerkt, durch Zuschreibungen alt „gemacht“ wird. Moderne Leistungsgesellschaften, so die These des Autors, verbinden mit dem Alter eher negative Empfindungen und Erwartungen, es dominiere eine „Idealisierung und Glorifizierung der Jugend“ (S. 91). Der Traum der ewigen Jugend findet in der Kunst- und Kulturszene einen starken Widerhall. Er wird auch als glorifizierter Motor für die Vermarktung von Medizin, Pharma-, Nahrungs- und Kosmetikprodukten herangezogen und sorgt jährlich für einen Milliardenumsatz. Warum unterziehen sich Menschen diesen Praktiken? Ein Motiv, so Meitzler, scheint die gefühlte „Funktionslosigkeit“ (S. 93) zu sein, welche mit dem Alter assoziiert wird: Es wird deutlich, wie sehr der erlernte oder ausgeübte Beruf einen essentiellen Teil zur Identitätskonstitution des Subjekts beiträgt. Das Handeln der Menschen kann nicht unabhängig von der sozialen Konstruktion des Lebenslaufs betrachtet werden. Mit Übergängen gehen auch Veränderungen des Status einher: ökonomische Abhängigkeiten schwinden oder nehmen zu, soziale Rollen werden getauscht oder neu angenommen. Hier werden Praktiken, die dem biologischen Alter entgegen wirken oder davon ablenken, genutzt, um sich diesen Zuweisungen für eine gewisse Zeit zu entziehen. „Rites de Passage“, ein von Arnold van Gennep geprägter Begriff, bezeichnet Übergangsprozesse, die von einem Lebensabschnitt in den anderen zu bewältigen sind. Übergangsrituale beinhalten sowohl eine Rückschau in die abgeschlossene Vergangenheit als auch eine Vorschau in die – noch offene – Zukunft; sie sind zeitlich begrenzte Schwellenzustände, in welchen ein Mensch einen Teil des „alten Lebens“ hinter sich lässt: metaphorisch ausgedrückt „stirbt“ ein Lebensabschnitt, bevor ein neuer beginnt. Der „finale Übergang“ wird mit dem Tod vorgenommen. Das Wissen um den Tod und das Bewusstsein der Endlichkeit des eigenen Lebens beschäftige das Individuum, insbesondere, wenn diese Gedanken vom Tod eines Anderen genährt werden. Oft werden die Gedanken dann aus dem individuellen Bewusstsein an einen Ort „außerhalb unserer Alltagswirklichkeit“ (S. 114) verbannt.

Auch der Begriff der imaginierten Postmortalität wird im Buch verhandelt: Demnach werden dem Wissen um die Endlichkeit des Lebens (teilweise religiös begründete) Fantasien von einem ewigen Fortbestehen nach dem Tode entgegengestellt. Das Anfertigen von Testamenten oder anderen „postmortalen Anschlusskommunikationen“ (S. 132) – wie etwa die Verwahrung persönlicher Gegenstände oder des eigenen Körpers nach dem Tod – wird von einigen Menschen sehr genau im Voraus bearbeitet. Körperspenden und Plastination haben in den vergangenen Jahren stark zugenommen, die Faszination der dauerhaften Erhaltung des eigenen Körpers (eine Art Unsterblichkeitsfantasie) spielt hier eine wichtige Rolle.

Gedenke, dass du sterben musst

„Der Tod ist ein Problem der Lebenden“ schreibt Norbert Elias (1982, S. 10). Trauerrituale werden dazu genutzt, mit dieser schmerzlichen sozialen Tatsache fertig zu werden. Bestimmte Normen (etwa das Trauerjahr einer Witwe) erfuhren mit der Zeit gewisse Veränderungen, dennoch sind viele Ausdrucksformen der Trauer „von den moralischen Ansprüchen der Gesellschaft überformt“ (S. 143). Im Kapitel um Erinnerungsformen und -techniken führt Meitzler aus, wie Erinnerungen zwischen Menschen geteilt und lebendig gehalten werden. Der „Ozean der Erinnerung“ gilt als ein „ungewollt sich wie von selbst aktivierender Mechanismus“ (S. 13), dem man kaum entkommen kann. Eine Erinnerung ist zumeist an soziale Interaktionen gekoppelt, sodass Stimmungen und Emotionen vergangener Episoden des Lebens wieder an die Oberfläche gespült werden. Erinnerungsmedien wie Tagebücher oder Abschiedsbriefe werden wie ein Schatz aufbewahrt, sie sind „Übergangsobjekte“ (S. 165), welche den Wechsel für die Hinterbliebenen greifbarer machen. Auch hier ist eine Tendenz zur Personalisierung des Todes sichtbar; unterschiedliche Medien werden zur „postmortalen Individualisierung“ (S. 217) und „Emotionalisierung“ (S. 220) genutzt. Friedhöfe als Orte der Erinnerung nehmen an Individualität zu. So findet man auf Grabstätten typische Vanitas-Elemente („Symbole des Todes“, S. 175) oder auch Fotografien und Gegenstände der Verstorbenen. Meitzler fragt sich: Sind Fotografien Zeichen des Lebens oder „memento mori“ (S. 221)? Für die Sozialforschung sind Bilder zunächst einmal hilfreiche Erkenntnisinstrumente, die helfen, Vergängliches punktuell festzuhalten. Zeitabläufe können verlangsamt und auf eine kleine Ewigkeit ausgedehnt werden, ganz so, „als stünde die Zeit still“ (S. 193). Die Person bleibt auf dem Foto unverändert, aber die Betrachter_innen sowie das Fotoobjekt selbst verändern sich. Ein Foto, so resümiert der Autor, sei also weit mehr als das Papier als greifbare Materialität, vielmehr sei jeder Fotografie, unabhängig vom Motiv, „die Vanitas-Thematik schon eingeschrieben“ (S. 214). Entsprechend verschärft Philippe Dubois mit dem Begriff der „Thanatografie“ (S. 222) den in der Fototheorie immer wieder betonten unauflöslichen Konnex zwischen Fotografie und Tod, indem er die diskursiv festgesetzte Eigenschaft in den Namen des Mediums selbst integriert, die „Lichtschrift“ zur „Todesschrift“ modifiziert.

Damnatio memoriae, die „Verdammnis des Andenkens“, welche den Menschen samt der Erinnerung an ihn aus dem persönlichen wie kollektiven Gedächtnis tilgen soll, ist eine seit der Antike bekannte Praxis und wirksames politisches Instrument zur Bestrafung. Eine Variation davon ist die postmortale Demütigung, etwa, indem Fotografien besiegter Feindbilder (etwa jene des toten Saddam Hussein) veröffentlicht und geschmäht werden. Meitzlers wichtige Einsicht in seinem sonst recht individualisierenden, wenig gesellschaftsbezogenen Buch (obgleich der Titel diesen Kontext vermuten ließe): Geschichte lässt sich nicht so einfach korrigieren, und noch viel weniger lässt sie sich „vergessen machen“ (S. 270). Die Auseinandersetzung damit hilft, die Vergangenheit zu erhalten und diese zu verstehen.

Zusätzlich verwendete Literatur

Norbert Elias (1982): Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.
Pascal Mercier (2004): Nachtzug nach Lissabon. Münchenm Wien: Hanser Verlag.
Julian Pörksen (2013): Verschwende Deine Zeit. Ein Plädoyer. Berlin: Alexander Verlag.

Matthias Meitzler 2011:
Soziologie der Vergänglichkeit. Zeit, Altern, Tod und Erinnern im gesellschaftlichen Kontext.
Verlag Dr. Kovač, Hamburg.
ISBN: 978-3-8300-5455-9.
280 Seiten. 78,00 Euro.
Zitathinweis: Johanna Bröse: Leben als „Sein zum Tode“. Erschienen in: Leben und Sterben. 35/ 2015. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1260. Abgerufen am: 19. 04. 2024 21:07.

Zum Buch
Matthias Meitzler 2011:
Soziologie der Vergänglichkeit. Zeit, Altern, Tod und Erinnern im gesellschaftlichen Kontext.
Verlag Dr. Kovač, Hamburg.
ISBN: 978-3-8300-5455-9.
280 Seiten. 78,00 Euro.