Friedrich Engels als Theoretiker und Kritiker des Staates
- Buchautor_innen
- Samuel Salzborn (Hg.)
- Buchtitel
- '...ins Museum der Altertümer'
- Buchuntertitel
- Staatstheorie und Staatskritik bei Friedrich Engels
Ein solider Sammelband zur Staatstheorie von Friedrich Engels, der leider auch einige Lücken aufweist.
Eine „bemerkenswerte Renaissance“ von Marx (Hunt 2009, S. 10) diagnostiziert der britische Historiker Tristram Hunt in seiner unlängst erschienen Biografie von Marx’ Mitstreiter Friedrich Engels. Er fügt jedoch hinzu: „während Marx’ Aktie stieg, fiel diejenige von Engels. Es wurde Mode, Marx und Engels voneinander zu trennen und den einen als ethisch und humanistisch zu ehren, während man den anderen als Mann des Apparats und wissenschaftsgläubig abtat“ (ebd. S. 13). Hunt plädiert dagegen dafür, sich Engels „wieder unvoreingenommen“ zu nähern (ebd. S. 14).
Ich selbst, durchaus kein Sympathisant von Engels, empfinde dieses mittlerweile schon etwas altbackene „guter Marx, böser Engels“-Spielchen zumeist auch insofern nicht sonderlich ergiebig, als es meines Erachtens zumeist auf einen für die ZeitgenossInnen nicht erkennbaren Theoretiker Marx rekurriert, dessen Interventionen merkwürdigerweise meist im Widerspruch zu gerade jenem Denken stehen, welches die Marx-FreundInnen an diesem lobend hervorheben. Andererseits macht es sich auch das Bild des „dummen“ Engels wiederum zu leicht, da dieser mit Problemen und Fragestellungen konfrontiert war, zu denen sich Marx wenig oder gar nicht äußerte. Insofern ist auch zu beachten, dass sich der späte Engels „inmitten einer historischen Situation“ wiederfindet, „die ihm ganz neue Aufgaben“ gestellt hat (Mohl / Negt 1986, S. 491). Und schließlich ist es ein Gebot historischer Fairness sich auch Engels mit dem gebotenen Ernst zu nähern, vor allem, wenn dieser von großen Teilen seiner eigenen Bewegung mehr oder weniger verleugnet wird.
Insofern finde ich es grundsätzlich begrüßenswert, dass sich nun ein Band der Reihe Staatsverständnisse des Nomos Verlags explizit mit Engels auseinandersetzt und dessen „theoretisch-konzeptionelles Eigengewicht würdigt“ (S. 9). Dem Herausgeber ist zuzustimmen, wenn er darauf verweist, dass dieser „im Bereich der politischen Organisation und Herrschaftsanalyse deutlich exponierter argumentiert und reflektiert“ habe, als Marx (S. 9) – ein Urteil, dass auch ein Blick in den, in derselben Reihe erschienen Band zu Marx bestätigt: dort ist zu Marx’ Staatstheorie nicht zufällig denkbar wenig zu erfahren (vgl. Hirsch / Kannankulam /Wissel 2008). Der Sammelband beinhaltet neun Aufsätze, die in zwei Sektionen unterteilt sind: Fünf Aufsätze sind unter der Überschrift „Staatsanalyse und Staatskritik“ versammelt, die übrigen vier beschäftigen sich mit „Kontexte[n] und Kontextualisierungen“.
„Staatsanalyse und Staatskritik“
In der ersten Sektion informiert recht anschaulich und solide der Aufsatz von Merkel-Melis über „Die Staatstheorie im Spätwerk von Friedrich Engels“, wobei es heißt, dass sowohl für Marx als auch für Engels gelte, dass dieser „keine ausgearbeitete Theorie über den Staat hinterlassen“ habe (S. 50). Mit Blick auf den späten Engels und dessen Hoffnungen auf die sozialdemokratische Unterwanderung des Staates werden „Illusionen“ erkannt, da Engels „Wahlverhalten und revolutionäre Potenz“ gleichsetzt habe (S. 75) – eine Illusion im Übrigen, auf die zeitgenössische AnarchistInnen immer wieder aufmerksam machten. Dass von diesen jedoch – wie im gesamten Band – keine Rede ist, geht dann auch ein wenig zu Unkosten einer wirklichen historischen Kontextualisierung. Wie das Ausblenden, beziehungsweise der Verzicht auf ein ernsthaftes Diskutieren des seinerzeitigen Anarchismus auch zu analytisch schiefen beziehungsweise problematischen Folgen führen kann, zeigt der Aufsatz „Von der Utopie zur Wissenschaft? Zur Regression des materialistischen Anspruchs in der Staatstheorie von Friedrich Engels“ des Herausgebers Salzborn. Wenn dieser nämlich recht einseitig behauptet, „dass es genau jene unwissenschaftlichen Elemente in seinem [Engels] Werk gewesen sind, die den realsozialistischen Zwangsherrschaftsregimen die Anknüpfung an sein Werk ermöglicht haben“ (S. 24; Herv. i. O.), und anmerkt, dass Engels sich in seiner Theoriebildung „strukturell nur in Nuancen“ von dem „idealistischen und infantilen Ideal der Anarchisten“ unterschieden hätte (S. 14), darf die Nachfrage erlaubt sein, warum eigentlich der Anarchismus keinerlei vergleichbares Zwangsherrschaftsregime etabliert hat?
Informativ hingegen sind wieder die Ausführungen von Frauke Höntzsch zur „Spannung zwischen Gleichheit und Autorität bei Engels“. Sie kommt zu dem Schluss, dass Engels gemeint habe: „Um das Reich der Freiheit zu ermöglichen, muss die Produktion in der kommunistischen Gesellschaft (…) planmäßig organisiert werden, wozu es ökonomischer Autorität bedarf, die funktionale Ungleichheit impliziert.“ (S. 45f; Herv. i. O.) Die mit dieser Ungleichheit verbundenen Gefahren habe Engels weitgehend unterschätzt. Dem ist zuzustimmen, und darüber hinaus scheint es mir auch etwas sehr freundlich, wenn Engels zugute gehalten wird, dass er, indem er „mit Blick auf die Diktatur des Proletariats (…) vor Machtmissbrauch“ gewarnt habe, „die Entwicklung der sozialistischen Staaten“ kritisch antizipiert hätte (S. 46). Denn auch hier hätte man historisch kontextualisieren müssen, inwieweit sich der angesprochene späte Engels explizit der anarchistischen Kritik erwehren musste, wie es auch lohnenswert gewesen wäre, die Frage der „funktionellen Ungleichheit“ mit Blick auf die zeitgenössische Debatte mit den AnarchistInnen näher zu beleuchten und nicht nur ein paar polemische Bemerkungen bei Engels zum Anarchismus abzuschreiben (S. 36f).
Exkurs: Engels und das Militär
Zwei der fünf Aufsätze aus der Sektion „Staatsanalyse und Staatskritik“ beschäftigen sich merkwürdigerweise mit Engels’ Thesen zu Krieg, Gewalt und Militär. Während Rüdiger Voigts Ausführungen recht oberflächlich wirken, ist von Herfried Münkler – wie so oft – immer wieder etwas zu lernen. Erstaunlicherweise aber thematisieren beide Aufsätze nicht näher einen wichtigen Punkt bei Engels’ Ausführungen zu dieser Thematik, die auch Rückschlüsse auf sein Staatsverständnis ergeben. Engels hatte nämlich gemeint:
„Die Hauptstärke der deutschen Sozialdemokratie liegt aber keineswegs in der Zahl ihrer Wähler. Bei uns wird man Wähler erst mit 25 Jahren, aber schon mit 20 Soldat. Und da grade die junge Generation es ist, die unsrer Partei die zahlreichsten Rekruten liefert, so folgt daraus, dass die deutsche Armee mehr und mehr vom Sozialismus angesteckt wird. Heute haben wir einen Soldaten auf fünf, in wenig Jahren werden wir einen auf drei haben, und gegen 1900 wird die Armee, früher das preußischste Element des Landes, in ihrer Majorität sozialistisch sein. Das rückt heran, unaufhaltsam wie ein Schicksalsschluss.“ (Engels 1891/92, S. 251)
Anschaulich zeigt sich hier, wie bei der Frage des Parlamentarismus, dass der Staat selbst nicht als die emanzipatorischen Prozesse integrierender Apparat gedacht wird, sondern als in gewisser Weise neutrales Instrument, dem man sich im Kampf bedienen könne, ohne dass die (hochproblematischen) Rückwirkungen auf die Konstitution der sozialistischen Bewegung ernsthaft in Betracht gezogen werden. Nicht zufällig hat dann auch Bakunin – analog zu seiner Parlamentarismuskritik – betont:
„Was den Drill der Soldaten angeht, so ist das eines der wichtigsten Dinge bei der Organisation eines gutes Heeres; in der deutschen Armee brachte man ihn zu systematischer, tief durchdachter sowie praktisch erprobter und realisierter Perfektion. (…) Der Soldat muss von morgens bis abends beschäftigt sein und ständig bei jedem Schritt das strenge, kalte, hypnotisierende Auge seines Vorgesetzten auf sich fühlen. (…) Wenn der Soldat erst drei, vier ja fünf Jahre in dieser traurigen Umgebung verbracht hat, kann er nur als Krüppel wieder daraus hervorgehen.“ (Bakunin 1873, S. 207)
„Kontexte und Kontextualisierungen“
Nicht allzu klar erkennbar warum in dieser Sektion untergebracht, widmet sich Georg Fülberth der „Staatskritik von Engels im Kontext des Gesamtwerkes von Marx und Engels“, wobei er abschließend meint: „Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass es keine ‚positive’ Staatstheorie Engels’ gab und dass diese Negativität in seiner Spätphase deutlich ausgeprägter was als z.B. im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848.“ (S. 136; Herv. i. O.) Da Fülberth sich auf die Auseinandersetzungen des späten Engels mit der deutschen Sozialdemokratie fokussiert, gelten hier ähnliche Anmerkungen wie schon zum Aufsatz von Merkel-Melis. Eike Hennig widmet sich in „Revolution gegen Versöhnung“ der Frage, inwieweit die Probleme des Engelsschen Denkens aus einer falschen Hegelrezeption herrühren – wie ich finde nur mäßig interessant und als grundsätzlicher Ansatz wenig überzeugend.
Eine wichtige Grundfrage materialistischer Staatstheorie schon im Titel seines Aufsatzes anführend – „Staat der Kapitalisten oder Staat des Kapitals“ – erörtert Ingo Elbe die Differenzen zwischen Lenin, Kelsen und dem Helden der neueren Staatstheorie, Paschukanis. Geboten wird nichts Neues – manchmal in der historischen Kritik auch etwas schief –, aber Grundlegendes zum Verständnis aktueller Debatten, beziehungsweise deren Ausgangspunkte.
Interessant wiederum Hans-Christian Petersens Aufsatz „Gegen die Oktoberrevolution“ über den Gründungsvater des Marxismus in Russland: Georgij Plechanov. Dieser hatte sich scharf gegen den Leninschen Kurs gewandt und vor dessen terroristischem Ausgang gewarnt. Es bleibt in diesem Sinn festzuhalten, dass maßgebliche Denker der alten Garde des Marxismus, wie Eduard Bernstein, Karl Kautsky und eben auch Plechanov vehement gegen die Bolschewiki polemisiert haben. Vergessen werden sollte dabei allerdings auch nicht, dass diese keine ernsthafte alternative sozialistische Perspektive anzubieten hatten. Dies spricht andererseits wiederum nicht für Lenin, sondern sollte vielleicht den Blick auf AkteurInnen und Bewegungen lenken, die jenseits der reformistischen wie bolschewistischen Positionen verortet werden können. Im Fall Russlands wären zu nennen: die linken SozialrevolutionärInnen und die AnarchistInnen.
Fazit
Im Großen und Ganzen ist der Band gelungen und bietet einiges an Material zum Eindenken und Weiterdenken. Dass dabei einige wichtige Lücken klaffen habe ich versucht anzudeuten. Wie es scheint soll in der Reihe Staatsverständnisse auch ein Band zum Thema Anarchismus veröffentlicht werden. Es bleibt abzuwarten, ob es diesem gelingen wird, den/die LeserIn davon zu überzeugen, dass auch hier einiges zu lernen ist und nicht nur ein „idealistisches und infantiles Ideal“ vertreten wurde, wie es uns der Herausgeber erklärt hat.
Zusätzlich verwendete Literatur
Michael Bakunin 1873/2007: Staatlichkeit und Anarchie. Karin Kramer Verlag, Berlin.
Friedrich Engels 1891-92/1963: Der Sozialismus in Deutschland, in: Marx-Engels-Werke (MEW). Band 22. Dietz Verlag, Berlin. S.245-260.
Joachim Hirsch / John Kannankulam / Jens Wissel (Hg.) 2008: Der Staat der Bürgerlichen Gesellschaft. Zum Staatsverständnis von Karl Marx. Nomos Verlag, Baden-Baden.
Tristram Hunt 2009: Friedrich Engels. Der Mann, der den Marxismus erfand. Propyläen Verlag, Berlin.
Ernst-Theodor Mohl / Oskar Negt 1986: Marx und Engels – der unaufgehobene Widerspruch von Theorie und Praxis. In: Iring Fetscher / Herfried Münkler (Hg.). Pipers Handbuch der politischen Ideen. Band 4. Neuzeit: Von der Französischen Revolution bis zum europäischen Nationalismus. Piper Verlag, München. S.449-513.
'...ins Museum der Altertümer'. Staatstheorie und Staatskritik bei Friedrich Engels.
Nomos, Baden-Baden.
ISBN: 978-3-8329-5797-1.
198 Seiten. 29,00 Euro.