Fiktion als Alibi
- Buchautor_innen
- George Tenner
- Buchtitel
- Jenseits von Deutschland
George Tenner scheitert mit seinem Antikriegsroman aus der Sicht junger Bundeswehrsoldaten am eigenen Anspruch.
„Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“ (Kafka 1958, S. 28), lautet ein bekanntes Zitat von Franz Kafka, und damit ist die besondere Kraft von Literatur angesprochen, die innerlich aufzuwühlen und auf profunde Weise zu erschüttern vermag. George Tenners Antikriegsroman „Jenseits von Deutschland“ ist weniger Axt als vielmehr Vorschlaghammer – und lässt die Leser_innen trotzdem eiskalt.
Dabei ist die Idee eigentlich gut. Erzählt wird die Geschichte des deutschen Afghanistaneinsatzes aus der Sicht junger Bundeswehrsoldaten. Episodisch angelegt und multiperspektivisch gebrochen, verschränken sich im Verlauf der Lektüre verschiedene Zeiten und Räume und führen Krieg und Terror mal als gegenwärtiges, mal als erinnertes Grauen in der Rückblende vor Augen. George Tenner hat eine klare Botschaft, und aus seinem Roman spricht echte Empörung – über das Versagen und die Verschleierungspolitik der Bundesregierung, über massive Informationsrückstände in der deutschen Bevölkerung, über die systematische Zurichtung von Körper und Seele im Krieg. Den Rechercheaufwand, der hinter dem 2011 veröffentlichten Roman steht, muss man anerkennen. Tenner wartet mit einer immensen Informationsdichte und Faktenfülle auf und bietet den interessierten Leser_innen im Anhang sogar ein Quellenverzeichnis mit weiterführender Literatur. Seinem zweifellos bemerkenswerten Anspruch, eine kritisch-literarische Gegenstimme im öffentlichen Diskurs zu sein, wird „Jenseits von Deutschland“ trotzdem nicht gerecht. Als Essay oder Sachbuch hätte das vielleicht sogar funktioniert. Doch als Roman ist dieses Buch gescheitert – und zwar auf ganzer Linie.
Wuchernde Stilblüten, lähmende Faktenfülle
Elementare Schwächen offenbaren sich bereits an der Textoberfläche. Wenn in „Jenseits von Deutschland“ beispielsweise von „Augenlieder[n]“ (S. 51) die Rede ist, so handelt es sich nicht um eine feinsinnige synästhetische Metapher, sondern schlicht um einen von zahlreichen störenden Tippfehlern, die den Verdacht aufkeimen lassen, dass auch im Lektorat die Augenlider allzu oft fest verschlossen geblieben sind. Anders ist auch das breite Spektrum an Stilblüten kaum zu erklären, das vom minderschweren Fauxpas wie der „weiblichen Soldatin“ (S. 146) oder dem „Damoklesschwert“, von dem jemand ‚eingeholt‘ wird (überdies mit einem „Paukenschlag“, S. 6), bis hin zum komplexen semantischen Totalausfall reicht: „Bei dem wenigen Bewuchs, der in dieser Region anzutreffen ist“, so heißt es in der Beschreibung eines geheimen Militärschlags gegen die Taliban, „kann ein sich Unsichtbarmachen ein unerfüllbarer Wunsch sein. Ein dichter europäischer Wald wäre ein nicht zu bezahlendes Geschenk. Sterne funkelten am Himmel.“ (S. 189) Man muss schlucken.
Formale und stilistische Schnitzer dieser Art sind ärgerlich und wären mit einem couragierten Rotstift vermeidbar gewesen. Schwerwiegendere, da grundsätzliche Kritikpunkte siedeln aber auf der Ebene der Narration. Schnell hat man den Eindruck, dass es Tenner vor allem um die Vermittlung von Daten und Fakten geht, die er um jeden Preis in der Geschichte unterbringen will; egal, ob es erzähllogisch passt oder nicht – Hauptsache, vollständig und bis auf die Nachkommastelle genau. Ein erheblicher Anteil der faktischen Informationsvergabe wird dabei auf die fiktiven Dialoge ausgelagert, die teilweise wikipedianische Ausmaße annehmen und mitunter ins unfreiwillig Komische kippen. An Absurdität schwer zu übertreffen ist beispielsweise die Schilderung der zart aufkeimenden Romanze zwischen dem jungen Soldaten Jerôme und seiner Kollegin Sophia, deren erstes (!) Gespräch sich schnell als fiktionsinternes Alibi für den Tennerschen Frontalunterricht erweist: „Laut Verteidigungsministerium befinden sich derzeit 6.391 Soldatinnen und Soldaten in den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Von diesen sind 3.143 ostdeutscher Herkunft. Dies entspricht einem Anteil von über neunundvierzig Prozent“ (S. 85), wird Jerôme von Sophia belehrt. Enzyklopädischer dürfte in der deutschen Literaturgeschichte selten geflirtet worden sein, denn Sophia weiß wirklich alles ganz genau:
„In der Gesamtbevölkerung machen Ostdeutsche gut zwanzig Prozent aus, Berlin eingeschlossen. Die Aufschlüsselung zeigt außerdem, dass kein einziger Admiral im Auslandseinsatz ostdeutscher Herkunft ist; ostdeutsche Stabsoffiziere machen mit neunundfünfzig von dreihundertsechsundfünfzig gut sechzehn Prozent aus. Am deutlichsten ist jedoch die proportional ungleiche Verteilung bei den Mannschaften. Hier stellen Ostdeutsche, die noch nicht einmal den gleichen Sold erhalten wie ihre Westkameraden, mehr als zweiundsechzig Prozent“ (S. 85f.).
Dass Sophia hier nahezu wörtlich ganze Passagen aus dem – immerhin im Literaturverzeichnis aufgeführten – Artikel „Ossis als Kanonenfutter“ von Rüdiger Göbel in den Mund gelegt werden, sei hier nur am Rande bemerkt. Immerhin: In irgendeiner Runde ihres überdrehten Zahlenkarussells muss (für die Leser_innen völlig unbemerkt) wohl der Funke übergesprungen sein: „Nur du sollst mein Gebieter sein und ich dir untertan“ (S. 87) summt Sophia plötzlich das ihrer Meinung nach „schönste Liebesduett“ (ebd.) von Richard Strauss, woraufhin auch für Jerôme fest steht: „Wir bleiben zusammen“ (S. 88).
Personen statt Persönlichkeiten
Um Missverständnissen vorzubeugen: Kritisiert wird hier nicht, dass Tenner Faktenwissen vermitteln will. Kritisiert wird die Art und Weise, wie er die Romanform dazu missbraucht. In „Jenseits von Deutschland“ wird Fiktion zum Freifahrtschein der schnellen Meinungsmache – plakativ, plump, grobmotorisch. Und das geht nicht zuletzt auf Kosten der literarischen Figuren. Von Bundeswehrsoldaten und Offizieren über Verfassungsschützer und Kommissare bis hin zu Terroristen lässt Tenner zwar ein großes Spektrum an Personen auftreten, darunter jedoch keine einzige Persönlichkeit; seine Protagonisten bleiben holzschnittartig und psychologisch flach. Dadurch werden sie aber zwangsläufig – und das ist im Rahmen eines Antikriegsromans das eigentlich Problematische – auch unglaubwürdig und beliebig. „Jenseits von Deutschland“ muss sich die Frage gefallen lassen, ob es Klischees manchmal nicht eher bedient als hilft, sie abzutragen.
Bezeichnend ist die Schilderung der Tarnung einiger Soldaten, die im Rahmen einer geheimen Militäraktion „ihre Uniformen gegen die typischen Kleidungsstücke der paschtunischen Bevölkerung“ (S. 187) eintauschen: „Dabei wurde sorgfältig darauf geachtet, dass es sich um bereits getragene, zum Teil heruntergekommene Sachen handelte, die, zumindest auf den ersten Blick, die Männer in durchaus übliche Gestalten des Hindukusch verwandelten“ (ebd.). Und als eben solche „üblichen Gestalten“ wird man nach der Lektüre womöglich auch die „Gotteskrieger“ (S. 82) in Erinnerung behalten, die im Roman vor allem als bart- und turbantragende Bedrohung im Hintergrund agieren oder sich, wie der junge Abdul Wali bei der „Operation Heim zu Allah“ (S. 175), in Aussicht auf die „77 Jungfrauen, die ihn am Garten Allahs erwarten würden“ (ebd.) selbst in die Luft sprengen.
Scheitern am eigenen Anspruch
Die mangelnde psychologische Tiefenschärfe wird auch von dem massiven biographisch-historischen Ballast, der einzelnen Figuren zuweilen aufgebürdet wird, keineswegs aufgewogen. An der Familiengeschichte des ostdeutsch-jüdisch stämmigen Jerôme Mohr (Großvater Israel Mohr gründete 1896 erfolgreiche Schokoladenmanufaktur in Leipzig, wurde 1944 in Auschwitz ermordet, nach Kriegsende Verlegung der Familienfirma in die BRD, erneute Verlegung des Firmensitzes nach der Wiedervereinigung nach Leipzig) wird so im Schnelldurchlauf und en passant noch gleich die komplexe neuere deutsche Geschichte abgefrühstückt – und ja, das liest sich im Buch ähnlich überambitioniert, wie es hier klingt.
Tenner will zu viel und traut seinen Leser_innen zu wenig zu. In „Jenseits von Deutschland“ gibt es keinen Platz zwischen den Zeilen. Von dem subtilen Horror, den Erich Maria Remarque bereits vermittelt, wenn er die Schreie verwundeter Pferde beschreibt (Remarque 2009, S. 50f.), ist Tenners Buch auf jeder einzelnen seiner 239 Seiten meilenweit entfernt. Freilich: Der Vergleich mit Remarque ist ungerecht, und er würde hier auch gar nicht bemüht, wenn ihn der Klappentext nicht selbst anböte. „Dieser Antikriegsroman gewährt im Stile von Erich Maria Remarques ‚Im Westen nichts Neues‘ einen Einblick in das Seelenleben von Soldaten“, wird dort versprochen, was man entweder als infame Lüge oder als originellste Fiktion an diesem im Ganzen so fehlgeschlagenen Roman bezeichnen kann.
Zusätzlich verwendete Literatur
Kafka, Franz (1958): Briefe 1902–1924. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. Remarque, Erich Maria (2009): Im Westen nichts Neues. Kiepenheuer & Witsch, Köln.
Jenseits von Deutschland.
Schardt Verlag, Oldenburg.
ISBN: 978-3-89841-596-5.
239 Seiten. 12,80 Euro.