Zum Inhalt springen

Drag, Dialektik und Dreifaltigkeit

Buchautor_innen
Thomas Meinecke
Buchtitel
Jungfrau

Keine Strandlektüre zum Kopfausschalten, dafür aber eine facettenreiche Collage aus Theologie, Philosophie und Popkultur mit dem Hauch eines Traktats über die Liebe.

Mit dem katholischen Theologiestudenten Lothar Lothar (Vorname auf der ersten, Nachname auf der zweiten Silbe betont) rückt eine etwas anachronistisch erscheinende Figur und mit ihr eine ganze Spannweite ebensolcher Wissenschaftsdiskurse ins Zentrum von Thomas Meineckes Roman. Das Keuschheitsgelübde Lothars, dem die geneigte Leserin auch aus anderen als platt ungläubigen Gründen mit Skepsis begegnen darf, avanciert dabei zu einem Aufhänger für vielschichtige Debatten, die weitgehend ohne Verurteilungen auskommen. Strengen die absatzweise wiedergegebenen, affirmativen Lektüreeindrücke religiöser Schriften von der Bibel über ein paar Heilige bis zu Kardinal Ratzinger anfangs noch ein wenig an, ändert sich dieser Eindruck im Zuge der Kontextualisierung schleichend, ohne dabei seinen affirmativen und durchaus ernsthaften Charakter zu verlieren.

Theoretisch. Die theologische Postmoderne

Die religösen Textpassagen verzichten ihrerseits auf moralisierende Gebote und entstammen stattdessen überwiegend mystischen Traditionslinien. Es geht um Visionen, Stigmata und Paradoxa, die stets mehr Fragen aufwerfen, als sie beantworten und deren Schlussfolgerungen nicht selten die dogmatischen Grundfesten der katholischen Kirche ins Schwanken bringen. So wird die Geschlechterdichotomie vielfältig verkehrt und unterlaufen, Sexualität aus den Angeln der heteronormativen Monogamie gehoben und noch ins Zentrum des Zölibats injiziert (das ja tatsächlich in einem durchaus spannungsvollen Kontrast zur Asexualität steht). Die Entscheidung des Mannes für Gott, so die paraphrasierte These Paul Claudels, beruht auf der vorausgehenden Erfahrung des Verlassen- oder Zurückgewiesenwerdens durch eine geliebte Frau. „Die Frau bestimmt auch, wann eine Liebesbeziehung beginnt. Beziehungsweise: wann sie endet.“ (S. 147) Im Resultat der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen primärem (männlichem) und sekundärem (weiblichen) Prinzip lässt sich durchaus eine dekonstrutkive Strategie des Empowerments innerhalb der bestehenden patriarchalen Logik lesen.

In Ausschnitten aus Daniel Paul Schrebers „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ schließlich werden die verschiedenen Facetten noch einmal gebündelt: Die religiöse Mystik gesellt sich neben die Vorstellungen uneindeutiger und fluider Geschlechtszustände, während die weitergehende Betrachtung als psychiatrische Fallgeschichte Freud, Lacan, Deleuze und Žižek auf den Plan ruft. Damit wären dann auch die theoretischen Gewässer erreicht, denen sich ein wenig leichter emanzipatorisches Potential, zumindest aber eine Relevanz in gegenwärtigen Debatten, abgewinnen lässt. Der dekonstruktive Feminismus von Butler bis Vinken stellt sich Debatten über Kommunismus von Agamben bis Badiou, während sich auch bei diesen Autor_innen mit Doris Akrap noch ein „theological turn“ (S. 230) anzubahnen scheint. Theater- und filmwissenschaftliche Betrachtungen eröffnen ungeahnte Analogien. Schauspielen, so etwa die Position des amerikanischen Underground-Filmregisseurs Jack Smith, ist nur ein Ersatz für das, worauf es ihm ankommt. Aus einer bestimmten Perspektive ist es daher besser, die Schauspielerei sein zu lassen: Denken lässt sich nicht darstellen, vielmehr müsse getan werden. Weiterhin die Theorie des Lächerlichen, die eine Ausdifferenzierung zwischen dem ernsthaften und dem lächerlichen Lächerlichen leistet: Während ersteres, etwa in den travestitischen Überpointieriungen der Camp-Ästhetik oder des Drag, die Anerkennung von Dargestelltem wie Darsteller_innen wahrt, verfällt letzteres in eine bis zur Diskriminierung reichende Verspottung, die sich durch ein in beide Richtungen weisendes „Alles nicht so gemeint“ aus der Verantwortung zieht. Das Mittel der Wahl, so wird klar, ist auch für Meineckes Theologierezeption eher die resignifizierende Aneignung als die Festigung der Grenzen des Normalen durch die abwertende Darstellung des außerhalb Liegenden.

Praktisch. „Muß wahre Liebe nicht wenigstens weh tun?“ (S. 209)

In bester Gesellschaft mit den theoretischen Anleihen zeigen sich die verschiedenen Entwürfe emotionaler (Liebes-)Beziehungen, die die Haupt- und Nebenfiguren führen und entwickeln. Zunächst einmal: Jungfrau im alltagssprachlichen Sinne des „noch nicht...“ ist keine_r der Protagonist_innen. Die Suche nach der (vielleicht besser: relativ) wahren Liebe, weniger Suche nach einer Person als vielmehr nach einem Konzept ist dem Text sporadisch eingeschrieben, ohne je auf die sentimentalen Nerven zu gehen. Die promisken Ausschweifungen der schwangeren und verlobten Tochter von Lothars Vermieterin bleiben ungetadelt, wenn auch nicht gerade vorbildlich liebevoll erfüllt im Raum stehen. Die Komplexität des Unproblematischen kommt in der angehenden Beziehung zwischen Lothars Komiliton_innen Concordia und Gustave zum tragen, die sich die Frage stellen, ob „wahre“ Liebe nicht weh tun muss. Mit einem souveränen Schulterzucken über die eigene Schmerzlosigkeit genießen sie dann aber doch die gemeinsamen Stunden, wenngleich eine Spur von Sehnsucht nach der anziehend-abschreckenden Kippfigur Lothars vorhanden bleibt.

Der nämlich beginnt eine Freundschaft mit der Jazzpianistin Mary Lou, die sich zunächst asymptotisch, stets einen gewissen Abstand wahrend, einer Liebesbeziehung annähert. Die ständige Sorge Lothars um seine Keuschheit nimmt Mary Lou indessen zum Anlass, noch ein bisschen was „richtiges“ mit dem Bassisten ihrer Band anzufangen, das jedoch aus der Gefühlsperspektive im Vergleich zur wenig sexuellen Affäre mit Lothar doch eher dürftig bleibt. In spiralförmiger Steigerung von Versagen und Begehren baut sich eine nahezu berauschende Athmosphäre auf. Ob und wenn ja, wo genau zwischen Essen gehen, im Arm halten, unrichtigem und richtigem Küssen die Grenze der Keuschheit überschritten wird, bleibt zur Diskussion gestellt. Dass jedoch das oft schmerzliche Spannungsverhältnis, das durch diese Grenze geschaffen wird, seinerseits den für Lothar hinter der Grenze liegenden, affektiven und erotischen Landstrich mit heerer Intensivität auflädt, steht außer Frage. „In der echten Liebe kann jeder Ausdruck die gleiche Unendlichkeit enthalten“ (S. 276), lautet das Argument für die körperliche Keuschheit, das sich im konkreten Zusammentreffen dann aber doch nicht so ganz halten lässt. Ganz zu schweigen davon, dass dieses Gefühl der echten Liebe an sich schon nicht gerade keusch wirkt. Allein: Die Intensitätssteigerung durch Versagen, das Zusammenspiel von Lust und ihrem schmerzvollen Entzug hat ihren Reiz. Schade eigentlich, dass sich so etwas nicht schauspielerisch (oder auch: taktisch) darstellen lässt.

Gut. Politik ohne Politik

Erstaunlich, wie sich die Intensität der Konflikte auf der Handlungsebene in Wohlgefallen auflöst. „Richtige“ Probleme haben die Protagonist_innen eigentlich nicht, es gibt keinen Streit, keine Verzweiflung, keine Visionen, wie sie in den Kontrastfolien der theologischen, philosophischen und popkulturellen Einschübe aufgeworfen werden. Die Relativierung des absoluten Gut und Böse zu einem auf individuelle Körper bezogenen gut für... oder schlecht für..., ohne daraus tragische und endgültige Verurteilungen zu machen, strukturiert den gesamten Entwurf des Romans. Das hat jedoch nicht mit dem zu tun, was wir heutzutage als Drang zum Unpolitischen einer Kritik unterziehen sollten. Thomas Meinecke liefert ein Konzept der resignifizierenden Aneignung im Umgang mit uninteressant oder gar widersprüchlich erscheinenden Vorstellungen, das nahtlos an die theoretischen Modelle einer Politik des Poststrukturalismus anknüpfen.

Thomas Meinecke 2011:
Jungfrau.
Suhrkamp, Frankfurt am Main.
ISBN: 978-3518462669.
347 Seiten. 9,95 Euro.
Zitathinweis: Jorane Anders: Drag, Dialektik und Dreifaltigkeit. Erschienen in: Sommerausgabe. 20/ 2012. URL: https://kritisch-lesen.de/s/esXhw. Abgerufen am: 23. 11. 2024 22:16.

Zur Rezension
Zum Buch
Thomas Meinecke 2011:
Jungfrau.
Suhrkamp, Frankfurt am Main.
ISBN: 978-3518462669.
347 Seiten. 9,95 Euro.