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Bilder der Nation

Buchautor_innen
Katharina Grabbe / Sigrid G. Köhler / Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.)
Buchtitel
Das Imaginäre der Nation
Buchuntertitel
Zur Persistenz einer politischen Kategorie in Literatur und Film

Der Sammelband analysiert aufschlussreich das „Imaginäre der Nation“ in filmischen und literarischen Manifestationen.

Dass eine nationale Gemeinschaft stark von Bildern lebt, in denen sie sich selbst erfindet, erlebt und feiert oder sich abgrenzt, Andere und Anderes abwehrt oder ausschließt, konnte nicht zuletzt bei der medialen Inszenierung der (para-)olympischen Spiele beobachtet werden, in denen SportlerInnen fast ausschließlich hinsichtlich ihrer nationalen Zugehörigkeit befragt und verhandelt werden. Letztlich siegt oder verliert nicht eine SportlerIn, die einen deutschen Pass hat, sondern Deutschland selbst muss sich als Nation beweisen. Die symbolische Kraft sportlicher Ereignisse in Kombination mit dem medialen Fokus auf Bilder, die eine nationale Identifikation einfordern, zeigt sich zum Beispiel in dem Sieg einer deutschen Sportlerin einschließlich dem dazugehörigen Jubel mit umhängender deutscher Fahne so wie einem close up auf das Gesicht der Sportlerin während der Siegerehrung, deren zentrales Moment das andächtige Hören der Nationalhymmne ist. Mit den historischen und gegenwärtigen Ausprägungen des Imaginären der Nation in unterschiedlichsten Medien von philosophischen Texten, über die unterschiedlichen literarischen Gattungen bis hin zu filmischen und musikalischen Darstellungen beschäftigt sich der Sammelband „Das Imaginäre der Nation“.

Das nationale Ding

Als theoretische Grundlage dieses Bandes lassen sich zwei Texte herausstellen, die bereits in der Einleitung angeführt werden: Benedict Andersons „Imagined Communities“ und Slavoj Žižeks „Genieße Deine Nation wie Dich selbst!“. Während Andersons 1983 erschienenes Buch eher den Rahmen dafür bietet, die Nation als eine erfundene und vorgestellte zu verstehen, wird mit Žižeks Aufsatz von 1994 in fast jedem Beitrag explizit gearbeitet. Das durch Žižek mit Lacan psychoanalytisch hergeleitet „nationale ‚Ding‘“ (S. 13) scheint die AutorInnen des Bandes sehr fasziniert zu haben, ziehen sie es doch immer wieder als Interpretationsfolie heran und versuchen es entsprechend zu füllen. Nach Žižek gehe es in der Verhandlung des Nationalen immer wieder um dieses Ding, auch wenn oder gerade weil es nicht konkret benannt oder erfasst werden kann, da es eine „Leere“ (S. 200) sei.

So kann in Heinrich von Kleists „Hermannsschlacht“ die Freiheit zwar nicht das eigentliche Ding, aber als unkonkretes zumindest dessen „tautologisches Substitue“ (S. 74) sein. In Jelineks „Wolken.Heim“ wird die bedrohliche Seite des nationalen Ding offensichtlich, denn hier ist dieses als „imaginäre[s] Identifikationsmodell“ (S. 206) der nationalen Identität „nicht nur Identifikation mit den Toten, sondern führt selbst in den Tod“ (S. 206). Nach dem 11. September sei das nationale Ding, als der „American way of life“ (S. 226), so Žižek, gefährdet gewesen und habe derart zu einem erneuten Aufleben „des amerikanischen Patriotismus“ (S. 228) auch auf der weltpolitischen Bühne geführt. Selbst der Schwarm, wie ihn Frank Schätzlings Buch im Titel trägt, kann „so ein begehrenswertes Ding“ (S. 337) der, wie Julia Bodenburg schreibt, „Imaginäre[n] kollektive[n] Identität“ (S. 337) sein. Das nationale Ding kann mithin als die symbolische Figur des gesamten Bandes verstanden werden, gleichwohl immer wieder offen bleiben muss, was es „eigentlich wirklich“ ist.

Das Nationale im Wandeln: von Herder bis Rammstein

Die zeitlich sortierten Beiträge des Sammelbandes erforschen den Wandel der neuen ebenso wie der wiederkehrenden Bilder und Varianten des Nationalen zwischen dem 18. und dem 21. Jahrhundert. Das Nationale ist die Projektions- und Identifikationsfolie, die vielfältig gefüllt, bearbeitet, verhandelt und besetzt werden muss, da sie leer, so der Bezug auf Žižek, oder zumindest brüchig, offen und vereindeutigungsbedürftig ist.

Ausgehend von Herders „nationalen ‚Hirngemälden‘“ (S. 25) zeigt Sigrid Köhler auf, dass auch im 18. Jahrhundert die „Formierung der Nation“ (S. 50) der Bilder bedurfte. Eindrückliches Beispiel hierfür ist die Hermannsschlacht vor etwa 2000 Jahren, die von Schlegel (1740/41), Klopstock (1796), Kleist (1821) und Grabbe (1838) in literarischen Werken verarbeitet und von Martina Wagner-Egelhaaf als „wirkmächtiger deutscher Nationalmythos“ (S. 56) analysiert wird. Der Herausbildung der Germanistik als Universitätswissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts widmet sich Christina Riesenweber, indem sie die von der Hagens Nibelungen-Edition aus dem Jahre 1807 mit Blick auf die wirksam werdende nationale Imagination und dessen Verknüpfung mit wissenschaftsgeschichtlichen Ereignissen untersucht. Von der Hagens Edition ziele also „nicht allein auf die Rekonstruktion eines Textes, sondern auch auf die Konstruktion der Nation“ (S. 94), indem das Nibelungenlied als zentraler, immer schon dagewesener Text für das „deutsche Selbstverständnis“ (ebd.) entworfen wird. In dem gleichen Zeitraum der französischen Besatzung deutscher Gebiete beginnt Friederike Krippners Betrachtung der Figur Luthers als neuen Nationalhelden.

Bedauerlicherweise werden im Sammelband anschließend 130 Jahre übersprungen. Der den genannten Beiträgen folgende Aufsatz befasst sich gleich mit den 1950er Jahren, also der Nachkriegszeit. Christian Schmitt zeigt auf, wie in zwei Heimatfilmen, welche „die deutschen Jäger“ (S. 132) lebendig werden lassen, das Kino zum willkommenen, da scheinbar unproblematischen Fluchtort der Nachkriegsbevölkerung wird. Mit der spannenden Frage, wie die „DEFA als staatliche Filmgesellschaft der DDR im Auftrag der sozialistischen Kulturpolitik dazu [kam], sich im Western-Genre – dem Genre des US-amerikanischen Mythos – zu versuchen“ (S, 165, Herv. i. O.) zeigt Katharina Grabbe anschaulich und einleuchtend auf, wie der „Indianer in die DDR“ (ebd.) kam. Anschließend wird der zweite zeitgeschichtliche Sprung in der Zusammenstellung der Texte vorgenommen: Die letzten fünf Beiträge widmen sich Jelineks Theaterstück „Wolken.Heim“ (1990), Hamids (2008) und Žižeks Bearbeitung des 11. Septembers 2001 (2002), der Rammstein-Lieder „Stripped“ (1998) und „Amerika“ (2004), dem Fernsehfilm „Die Flucht“ (2007), der Begnadigungsdebatte um Christian Klar (2007) und Schätzings Roman „Der Schwarm“ (2005).

Die Vielfalt der ImagiNationen

Anhand des „DEFA-Indianers“ und Jelineks „Nationaltheater“ soll die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Vorstellungswelten der Nation, der ImagiNationen, deutlich werden.

Ausgehend von der historischen Bedeutung „‘des Indianers‘ als Figur eines spezifisch deutschen Imaginären“ (S. 165) diskutiert Grabbe den „DEFA-Indianer“. Diese Figur, so Grabbe, biete gerade als ein „Bild ohne Original“ (S. 170) mit seiner Offenheit die ideale Projektionsfläche für immer wieder neue Verhandlungen des Nationalen. Der „DEFA-Indianer“, so überzeugt die Autorin, musste geschaffen werden, um den Karl May-Verfilmungen in der BRD etwas entgegen zu setzen. In diesen sei Old Shatterhand der gute Weiße, mit dem sich jedeR identifizieren könne. Dem ‚Indianer‘ komme hier die Rolle des harmlosen aber schutzbedürftigen Freundes zu. Ganz anders die DEFA-Version. Hier sind ,die Indianer‘ als rote Männer die sozialistischen Genossen, die gemeinsam gegen Kapitalismus und Besatzung kämpfen. In der DEFA-Verfilmung „Chingachgook, die große Schlange“ (1967) gibt es jedoch noch eine spannende Wendung, da der alte Häuptling am Ende des Films den vielsagenden Namen „Gespaltene Eiche“ (S. 185) trägt. Auf diese Weise, so Grabbe, „wird die Eiche, als der deutsche Baum und als Metapher für Deutschland oder konkreter, für die deutsche Nation aufgerufen“ (ebd.). Am Ende des Films bleibt das Bild der „Zwei Stämme – eine Nation“ (S. 186), das deutlich an Willy Brandts Rede von zwei Staaten und einer Nation erinnert und sich derartig in die politische Lage einfügt. So wird einsichtig, warum die Figur des Indianers sowohl in der BRD als auch in der DDR erfolgreich für nationale Projektionen verwendet werden kann.

Ganz anders das, dem Titel zufolge scheinbar so gemütliche, „Wolken.Heim“ Elfriede Jelineks. Das nur knapp 30 Reclam-Seiten umfassende Theaterstück kommt völlig ohne Regieanweisungen oder Figuren aus, es wird nur in einem zunächst unbekannten „Wir“ gesprochen. Abschließend gibt Jelinek den Hinweis, dass die verwendeten Texte unter anderem Hölderlin, Hegel, Heidegger, Fichte, Kleist und aus den Briefen der RAF von 1973 bis 1977 entnommen sind. Matthias Schaffrick macht jedoch deutlich, dass sich ihr Text nicht durch eine Rekonstruktion der Zitate erschließen lässt. Vielmehr zeigt er in der Analyse der sprachlichen Strukturen des Textes auf, wie sich Wolken.Heim einer „diskursiv geordneten Erinnerung“ (S. 213) widersetzt und vielmehr die Brüchigkeit derselben offen legt und mit faszinierender Klarheit in Worte fasst. Dass sei umso beachtlicher, als der „Einheit der Nation“ „die Uneindeutigkeit der Sprache“ (S. 219f), ihrer eigenen Sprache, immer schon gegenüber stehe. In der unentrinnbaren „sprachlichen Ambiguität“ (S. 220) scheitert immer wieder die nationale Erzählung, die weder der Vergangenheit noch der Gegenwart habhaft werden kann. Dass Wolken.Heim kein behagliches nationales Bild vermittelt, sondern vielmehr zerstörerisches, aggressives und tödliches Potential offenlegt, macht auch Schaffricks Verknüpfung der verwendeten RAF-Texte mit dem Gefängnis Stammheim deutlich, an die der Titel des „Nationaltheaters“ (S. 219) zumindest erinnert.

Die Persistenz der Nation

Das bereits im Titel gegebene Versprechen, die Beharrlichkeit des Nationalen zu erforschen, hält das Buch ein. Es zeigt detailliert und schlüssig die Persistenz der Nation auf. Die Beiträge bieten neben einigen, die weniger explizit nationale Bezüge verfolgen, genug Beispiele gelungener Analysen und schärfen die Aufmerksamkeit für die Widersprüchlichkeit, Wirkmächtigkeit und Beständigkeit des Nationalen im vielfältigen Material der gesellschaftlichen Imagination. Wünschenswert wären weitere Analysen dieser Art, die einerseits Material aus den hier nicht abgesteckten historischen Perioden bearbeiten und andererseits nicht, wie in der vorliegenden Sammlung fast ausschließlich, den gleichen Text (Žižeks „Genieße deine Nation“) als Argumentationsfolie heranziehen.

Die Lektüre der Beiträge des Sammelbandes kann jeder/m empfohlen werden, die die Bedeutung des Nationalen in einer globalisierten Welt nicht schwinden sieht. Die Texte liefern ausreichend anschauliches Beispiel- und Argumentationsmaterial und regen zudem dazu an, eigene Nachforschungen in filmischem und literarischem Material zu beginnen.

Katharina Grabbe / Sigrid G. Köhler / Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.) 2012:
Das Imaginäre der Nation. Zur Persistenz einer politischen Kategorie in Literatur und Film.
Transcript Verlag, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-1981-2.
354 Seiten. 34,80 Euro.
Zitathinweis: Selma Haupt: Bilder der Nation. Erschienen in: Ökologie und Aktivismus. 22/ 2012. URL: https://kritisch-lesen.de/s/wJaRV. Abgerufen am: 26. 12. 2024 14:23.

Zum Buch
Katharina Grabbe / Sigrid G. Köhler / Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.) 2012:
Das Imaginäre der Nation. Zur Persistenz einer politischen Kategorie in Literatur und Film.
Transcript Verlag, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-1981-2.
354 Seiten. 34,80 Euro.