Beharrliche Vergangenheit
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- Zur linken Kritik an Stalinismus und Realsozialismus
Ein Sammelband zur linken Kritik an Stalinismus und Realsozialismus, der aufgrund seines eingeschränkten historischen Zugangs einen leider etwas zwiespältigen Eindruck hinterlässt.
Weitgehend auf eine Veranstaltungsreihe des Herbstes 2010 zurückgehend, legt die Gruppe INEX aus Leipzig nun einen Sammelband „Zur linken Kritik an Stalinismus und Realsozialismus“ vor. In einem sympathischen Vorwort weisen die HerausgeberInnen darauf hin, dass das vorliegende Buch „Ausdruck“ des „Bemühens“ sei, „Stalinismus und Realsozialismus zu verstehen“ (S. 8). Abgelehnt wird jene „Verdrängungsstrategie“, die das Scheitern des „Versuch[s] der Bolschewiki, den Sozialismus in Russland zu errichten“ auf die „historischen Verhältnisse“ abschiebt; eine Strategie, die „nicht nur Gefahr“ laufe, „die menschenfeindliche Realität des Stalinismus zu relativieren“, sondern auch „keine befriedigende Antwort auf die Fragen geben“ könne, „wie es zu Realsozialismus und Stalinismus kommen konnte und was daraus für Linke heute zu lernen ist“ (S. 7). Stattdessen sei „die Abgrenzung gegenüber Stalinismus und Realsozialismus (…) notwendige Bedingung, um den Kapitalismus auf fundamental emanzipatorische Weise zu überwinden und für dieses Projekt Zustimmung zu gewinnen“ (S. 7). Mit einiger Hoffnung – aber was bleibt uns auch übrig? – setzen die HerausgeberInnen darauf, dass Erkenntnis eine Wiederholung verhindern könnte und beharren darauf, dass die „Kritik des Stalinismus mehr als oberflächliche Imagepflege“ sein müsse, denn: „Es ist die Linke selbst, die Verantwortung dafür trägt, dass sich vergleichbare Verbrechen nicht wiederholen und eine Alternative zum Kapitalismus tatsächlich verlockend ist.“ (S. 16) So sympathisch die grundsätzliche Stoßrichtung der Ausführungen, bleibt manches dennoch etwas ambivalent, was sich vor allem in der verwendeten Begrifflichkeit zeigt. Schon die Einleitung ist nämlich von einer Unklarheit geprägt, die das ganze Buch – mit wenigen Ausnahmen – durchzieht, und dazu führt, dass man meist nicht ganz genau weiß, von was die Rede ist, wenn von „Sozialismus“ oder „Kommunismus“ gesprochen wird. Und noch wichtiger: welche (historischen) AkteurInnen mit diesen Begriffen assoziiert und welche von ihnen implizit ausgeschlossen werden. So schreiben die HerausgeberInnen:
„Ein plumpes Ablehnen der Begriffe ‚Kommunismus’ bzw. ‚Sozialismus’, oder der Versuch, sich auf jene Theoretiker_innen zu stützen, die nicht ‚beschmutzt’ sind, löst das Problem [sic!] der Geschichte der radikalen Linken nicht: Offensichtlich ist, dass Stalinismus und Realsozialismus als Verwirklichung der kommunistischen Idee gedacht waren und bis zum Schluss Impulse aus der kommunistischen Idee und ihrer Theorie bezogen.“ (S. 9)
Was aber ist die „kommunistische Idee“? Fällt beispielsweise der Anarcho-Kommunismus darunter? Wenn ja, wo hat sich ein Stalinist oder Realsozialist jemals positiv auf diesen bezogen? Oder ist er als Teil des „Nichtbeschmutzten“ (was er – dies nur nebenbei – nicht ist) sowieso uninteressant? Diese vielleicht kleinlichen Bemerkungen seien nur deshalb gemacht, weil sie symptomatisch auf eine gewichtige Leerstelle des ganzen Bandes hinweisen: die Nichtzurkenntnisnahme des Anarchismus und – im Fall Russlands noch gewichtiger – der (Linken) SozialrevolutionärInnen. Aber ich renne offene Türen ein, denn den HerausgeberInnen ist der „fragmentarische Charakter des Bandes“ (S. 15) selbst klar und anders kann es wohl auch kaum sein. Und gegen den im Band dokumentierten „Meinungspluralismus“ (S. 15) ist selbstverständlich nichts einzuwenden, bilden Kontroversen doch den besten Ausgangspunkt zum Selbstdenken.
Inhalt
Die Beiträge sind überwiegend, vor allem für Menschen, die sich bisher nicht näher mit der Geschichte des sogenannten Realsozialismus beschäftigt haben, mit Gewinn zu lesen. Vor allem die Beiträge von Sebastian Tränkle („Arthur Koestlers Sonnenfinsternis und die Debatte um revolutionäre Politik und Moral“) und Hendrik Wallat („ ’Die Weltreaktion ist auch Moskau!’ Rätekommunistische und anarchistische Kritik am Bolschewismus“), sowie Christoph Jünkes mit wunderbarer Verachtung für den Stalinismus verfassten Aufsatz über die „Schädelstätte des Sozialismus“ seien hier empfohlen. Der Aufsatz Bini Adamczaks über die Geschlechterpolitik der frühen Sowjetunion wäre als Anstoß für eine weitergehende Diskussion fruchtbar zu machen, während der Aufsatz der Gruppe Che Buraška über den „real existierenden Nationalismus in der Sowjetunion“ der Tiefpunkt des Bandes zu sein scheint – vielleicht, weil ich ihn einfach nicht verstanden habe: Das, was ich glaube, verstanden zu haben, erscheint mir an den behandelten Lebensrealitäten weitgehend vorbeizureden. Insgesamt hinterlässt der Sammelband einen etwas zwiespältigen Eindruck. Zwar scheinen sich alle irgendwie darin einig zu sein, dass an den Bolschewismus nicht positiv angeknüpft werden kann, aber die Positionierungen bleiben öfters etwas halbherzig oder uneindeutig. Dies scheint mir in erster Linie daran zu liegen, dass von den AutorInnen fast durchgängig die historischen Alternativen in ihrer Breite nicht ausreichend reflektiert werden. Exemplarisch möchte ich dies am Aufsatz der Gruppe [paeris] erläutern.
Exemplarisch: Gruppe [paeris]
Ausgangspunkt der Gruppe ist der Umstand, dass die „Erfahrung des sich selbst als real existierend bezeichnenden Sozialismus (…) alle politischen Projekte“ belaste, „die sich erneut die Abschaffung gesellschaftlicher Herrschaft zum Ziel gesetzt haben“ (S. 212). Erklärt wird: „Historisch ist die russische Revolution anders verlaufen“, als es sich Lenin in „Staat und Revolution“ vorstellte: „Es entwickelte sich recht bald eine neue bürokratische Schicht, die schließlich die Herrschaft im Land ausübte (…). In der historischen Rückschau wird dieses Resultat politischer Auseinandersetzungen und Entscheidungen leicht zur logischen Konsequenz des Versuchs der Abschaffung von Staat und Kapital erklärt.“ (S. 213f.) Nun könnte einiges über den Charakter von „Staat und Revolution“ und anderes gesagt werden, aber wichtiger ist jetzt, was die Gruppe zur Verteidigung des Kommunismus anführt: „Dabei gab es selbst unter den Bolschewiki in diesem bestimmten historischen Kontext unterschiedliche Einschätzungen und Ideen, welche Mittel und Wege die richtigen wären.“ (S. 214) Sollen also die Bolschewiki mit Rückgriff auf bessere Bolschewiki kritisiert werden oder deutet das „selbst“ eine grundsätzliche Pluralität und Offenheit der historischen Situation an? Zu Beginn des Textes wurde immerhin erklärt, dass mit dem Begriff „sozialistische Linke“ alle gemeint seien, „die sich heute auf ein Projekt der emanzipatorischen Überwindung der bestehenden Gesellschaft beziehen, bezeichnen sie sich selbst nun als Kommunistinnen, Anarchistinnen, Sozialrevolutionäre oder Sozialistinnen“ (S. 212). Im Weiteren aber hören von dieser bunten Menge und besonders von deren Konzepten nichts mehr, stattdessen wird von vornherein die Perspektive der Bolschewiki eingenommen und mitfühlend erklärt:
„Mit dem Sieg der Bolschewiki in Russland stellte sich die Frage, wie in dem wirtschaftlich rückständigen, kriegsverwüsteten Land – das nicht nur den Ersten Weltkrieg mitgemacht hatte, sondern anschließend unter tatkräftiger Beteiligung der westlichen Länder einen zweijährigen Bürgerkrieg auszuhalten hatte – eine Produktion organisiert werden kann, die auch nur halbwegs den dringendsten Bedarf der Bevölkerung deckt.“ (S. 214)
Nun könnte schon darauf verwiesen werden, dass die Bolschewiki zu der Forcierung des Bürgerkrieges durchaus selbst einiges beigetragen haben. Darüber hinaus könnte auch betont werden, dass es ihnen gerade nicht um die „Bevölkerung“ – wobei interessant ist, dass hier „die Bevölkerung“ objektivierend von oben in den Blick genommen wird –, sondern in erster Linie um die Fabrikarbeiterschaft in den von ihnen kontrollierten Gebieten ging, deren Bedürfnisbefriedigung durch mitunter brutalste Auspressung der Bauern und Bäuerinnen gewährleistet werden sollte. In diesem Zusammenhang kann an Bakunins Befürchtung erinnert werden, wonach die Marxsche Klassentheorie zu einer „neue[n] Aristokratie (…) der Fabriks- und der städtischen Arbeiter mit Ausschluss“ des „Landproletariat[es]“ führen werde (Bakunin 1872, S. 831). Ähnlich das Resultat, dass der Linke Sozialrevolutionär Kamkow 1920 zusammenfasste:
„Die Partei der Bolschewisten, die hauptsächlich durch die Bajonette der Bauern die Ministersessel besetzen konnte, hatte in den Honigmonden der Oktoberrevolution ihre ‚reinmarxistische’ Theorie ins Archiv gelegt und mit uns eine gemeinsame Plattform betreten. (…) Aber der Honigmond verflog (…). Der Bauernmasse fremd, ihr fern und aus alter Gewohnheit sogar feindlich, begannen die bolschewistischen Spitzen allmählich zur reinen Diktatur des Stadt-Proletariats zurückzukehren (…): Auf der Nase erschien wieder die marxistische Brille, und die Bauernschaft wurde unter den Verdacht der Kleinbürgerlichkeit, Reaktion und sogar Konterrevolution genommen“ (Kamkow 1920, S. 596f.).
Aber AnarchistInnen und – vor allem – die einflussreiche Gruppe der linken SozialrevolutionärInnen kommen in den Ausführungen der Gruppe [paeris] erst gar nicht vor. Bleiben diese Gruppen außen vor, fallen Vergleiche wie der folgende entsprechend leicht: „Der Anspruch auf Führung der Massen war keine bolschewistische Besonderheit. Auch die Menschewiki widersetzten sich 1917 in Russland vehement allen Initativen für Arbeiterinnenkontrolle, die direkt aus den Betrieben kamen“ (S. 223). Nur: wen interessieren die Menschewiki? Interessanter wäre es eben gewesen, sich zu fragen, was die Linken SozialrevolutionärInnen und die AnarchistInnen dazu meinten. Anstatt die Perspektive zu erweitern, unternimmt die Gruppe [paeris] dann teilweise abstruse Rechtfertigungen der Bolschewiki: „Vergessen wird bei der Besprechung des Verlaufs der Oktoberrevolution, dass der Bürgerkrieg der Weißen, teilweise pogromartig geführt wurde“ – der von den „Roten“ nicht? –, und „tatkräftig von westlichen Regierungen unterstützt wurde.“ (S. 214) Mich würde schon interessieren, wo dieser Umstand „vergessen“ wird, ist er doch eines der zentralen Argumente aus dem altbekannten Rechtfertigungsarsenal des Bolschewismus und seiner SympathisantInnen. Dass auf den Trotzkisten Ernest Mandel verwiesen wird, ist dann auch nur konsequent. Und so geht es weiter:
„Der sich im Laufe des Jahres 1918 immer weiter ausbreitende Bürgerkrieg der vom Westen unterstützten konservativen Kräfte gegen das sowjetische Russland machte dem jedoch bald ein Ende, und die Arbeiterinnendemokratie wich aufgrund der militärischen Notwendigkeiten einer straff zentralistischen Organisation der Produktion.“ (S. 215)
Nachdem nun also wieder einmal den bösen Anderen die Schuld zugeschoben wurde, die Macht der „Weißen“ sowieso überschätzt, bleibt sowieso nichts anderes, als den hier nicht genannten Trotzki mit seinem Konzept der Militarisierung der Arbeit zum Vollstreckungsbeamten der historischen Notwendigkeit zu erklären. Zur Politik der Bolschewiki scheint es während der Zeit des Bürgerkrieges keine Alternative gegeben zu haben. Erst seit 1921 scheinen sich für die Gruppe [paeris] mit der Gruppe Arbeiteropposition wieder „Fragen nach den Organisationsprinzipien der sowjetischen Wirtschaft“ (S. 216) gestellt zu haben, sie positionieren sich aber uneindeutig:
„Ob der Vorschlag der Übernahme der Produktion durch die in den Gewerkschaften organisierten Arbeiterinnen statt durch die staatliche Plankommission sich unter anderen Umständen hätte durchsetzen können und welche Schwierigkeiten bei der Umsetzung dieses Vorschlags aufgetreten wären, soll hier nicht diskutiert werden. Das ist letztlich müßige Spekulation.“ (S. 217)
Man fragt sich: Wenn das nicht eine wichtige Frage ist, die es zu diskutieren gilt, welche ist es dann? Bezeichnend jedenfalls, wenn im Anschluss Ernest Mandel zitiert wird, der, was nicht weiter verwundert, die Unmöglichkeit der Vorstellungen der Arbeiteropposition vertritt (vgl. S. 217). Von einer alternativen historischen Einschätzung erfahren wir nichts. Aber scheinbar geht es der Gruppe [paeris] auch gar nicht um Geschichte, wenn erklärt wird: „Beim heutigen Stand der Produktivität und heutigen Bildungsniveau ist eine Verwaltung der Gesellschaft und der Produktion durch die Bevölkerung selbst durchaus vorstellbar.“ (S. 218) Bedeutet das also, dass sich die an die Bolschewiki zu stellenden Fragen sowieso erledigt haben, weil sie irrelevant sind? Warum dann aber überhaupt eine Beschäftigung mit den Bolschewiki? Und mit Bezug auf die Zeit der Oktoberrevolution: Heißt das, dass die Russen und Russinnen – das wäre unausgesprochen im Übrigen Lenins Selbstrechtfertigung – prinzipiell zu dumm und unproduktiv in „ihrer überwiegend kleinbäuerlichen Gesellschaft“ (S. 218) gewesen waren, um etwas Emanzipatorisches zustande zu bringen? Man fragt sich, was diese ungebildeten Blödiane eigentlich vor der Revolution und ohne Hilfe von Papa Lenin und Mama Kollontai gemacht haben: am laufenden Band verhungern? Merkwürdig jedenfalls, dass massenhaftes Verhungern und sinnloses Verschleudern von Produktionsmitteln und -kräften unter der bolschewistischen Herrschaftsordnung nicht gerade unbekannt war. Aber so ganz sicher scheint sich die Gruppe [paeris] dann doch wieder nicht zu sein, wenn es kategorisch heißt: „Es gibt keinen Grund anzunehmen, Menschen könnten prinzipiell ihre eigenen Angelegenheiten nicht kollektiv selbst organisieren und bräuchten dazu immer eine übergeordnete Instanz, der sie unterworfen und zu Gehorsam verpflichtet sind.“ (S. 218) Diese Aussage wird nun nicht in ihrer Konsequenz bedacht und sogleich wieder abgewiegelt. Ein merkwürdiges Hin und Her:
„Das [eben angeführte Aussage; P.K.] sagt nichts darüber aus“ – nein? –, „was die Bolschewiki mit anderen Entscheidungen hätten erreichen können; das ist hier aber auch nicht die entscheidende Frage. Entscheidend ist, dass die Diskussion über verschiedene Möglichkeiten der Organisation der nachrevolutionären Ökonomie darauf verweist, dass die eingeschlagene Politik der Bolschewiki die einzig diskutierte und also auch in diesem historischen Kontext nicht die einzig denkbare war – mithin schon gar nicht von einer sich notwendig aus der Idee des Sozialismus oder der Abschaffung des Privateigentums an Betrieben ergebenden Unterordnung der Arbeiterinnen unter staatliches Kommando die Rede sein kann.“ (S. 218; Hervorhebung im Original)
Solche Statements wirken hilflos und der Verweis auf die „Ökonomie“ auch etwas entlarvend. Denn geht es bei einer sozialistischen Transformation nur um eine der „Ökonomie“, oder nicht viel tief greifender, um eine gesamtgesellschaftlich-kulturrevolutionäre Veränderung? Manchmal kommt die Gruppe [paeris] an eine fundamentalere Kritik an den Bolschewiki heran, wenn sie das Problem der politischen Konzeption zumindest insofern ansprechen, als sie den „unbedingten Führungsanspruch der Partei“ (S. 221) problematisieren. Aber wenn man dann wiederum liest, dass sich in der „russischen“ Diskussion – gemeint ist wohl: in der bolschewistischen – die „Fraktion der fürsorglichen Betreuung durch Staat und Partei“ durchgesetzt habe, „um die wenig aufgeklärte russische Arbeiterklasse zum Sozialismus zu führen“ (S. 223), kann es einem schon den Atem verschlagen. Und man würde sich wünschen, die Bolschewiki wären immerhin „fürsorglich“ gewesen. Gut, wenn z.B. der Gulag als Variante des Sozialstaates interpretiert wird, mag das hinkommen. Und waren die Bolschewiki fürsorglich gegenüber den Streikbewegungen in Petrograd und den Aufständischen von Kronstadt – beides Ereignisse, von denen wir im Aufsatz nichts erfahren? Vergegenwärtigt man sich aber, dass es die Gruppe Arbeiteropposition war, die ihre Treue zur Partei dadurch unter Beweis zu stellen versuchte, dass sie den Sturm auf Kronstadt in vorderster Linie unterstützte, lässt sich erahnen, dass die großen Differenzen innerhalb der Bolschewiki, von denen die Gruppe [paeris] ausgeht, sich in der konkreten Praxis zu jener Zeit etwas geringer ausnahmen. Wichtige Fragen für die Gegenwart werden von der Gruppe durchaus aufgeworfen, wenn beispielsweise betont wird:
„In einer revolutionären Situation müssen bestimmte Entscheidungen getroffen und eine gesellschaftliche Produktion organisiert werden. Dabei wird – und muss notwendigerweise – auf Erfahrungen zurückgegriffen und an Gedanken angeknüpft werden, die vorher schon gemacht bzw. entwickelt wurden. Denn Revolutionen gehen meist nicht nach einem vorher ausgedachten Plan vor sich, sondern entwickeln sich spontan; d.h. aber auch, man kann nicht unbedingt darauf setzen, später genügend Zeit für Reflexion und Durchdenken von Entscheidungen zu haben. Je eher man damit anfängt, eine ernsthafte Diskussion um Zwecke und Mittel einer Umgestaltung von Ökonomie und Gesellschaft zu führen, umso weniger muss man sich überraschen lassen oder auf guten Glauben setzen. Herrschaftlichen Lösungen, die mit der Dringlichkeit der Aufgabe begründet werden, kann nur etwas entgegengesetzt werden, wenn alternative Ansätze entwickelt sind und Erfahrungen damit bestehen.“ (S. 226)
Allerdings sind diese Fragen nicht unbedingt neu:
„Übrigens, wenn wir während der verhältnismäßig ruhigen Zeit, die wir jetzt durchmachen, unser Ideal nicht darlegen, diskutieren und verbreiten sollen – wann werden wir es tun? Wird es an jenem Tag sein, wo inmitten des Kampfes, auf den Trümmern der alten Herrschaftsordnung die Notwendigkeit an uns herantritt, sofort die Tore einer neuen Zukunft zu öffnen? Wo wir bereits eine Entscheidung getroffen haben müssen, und eines starken Willens bedürfen, um dieselbe auszuführen? – Dann wird es nicht mehr Zeit sein zu diskutieren. Dann müssen wir handeln, auf der Stelle, entweder in einem Sinne oder im anderen. Wenn die bisherigen Revolutionen dem Volke nicht das gaben, was dasselbe von ihnen mit Recht erwarten durfte, so ist dies nicht deshalb geschehen, weil das Volk zu viel über das Ziel der Revolution, deren Nahen man verspürte, diskutiert hat. Die Aufgabe, dieses Ziel zu bestimmen und zu entscheiden, was man tun solle, wurde immer den Führen überlassen, die das Volk ausnahmslos verraten haben, wie dies nicht anders möglich ist.“ (Kropotkin 1882, S. 172)
Bleibt festzuhalten: Ein weiterer Blick in die Vergangenheit tut Not. Nicht weil wir da alle Antworten finden und nun Marx und Lenin beiseite legen und dafür alles treudoof bei Kropotkin oder Bakunin abschreiben sollten. Sondern weil es zum Einen besser hilft, Vergangenes zu verstehen und einzuschätzen; und zum Anderen erkennen lässt, dass die Geschichte des Sozialismus – und hier treffe ich mich wohl mit dem Anliegen der HerausgeberInnen und AutorInnen – unendlich komplizierter und deshalb auch interessanter ist, als oft geglaubt wird.
Zusätzlich verwendete Literatur
Michael Bakunin 1872: An die Redaktion der Brüssler Liberté, in: ders. Staatlichkeit und Anarchie und andere Schriften. Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Ullstein Verlag, 1972. S. 808-841.
Kamkow 1920: Die Parteidiktatur gefährdet die Revolution, in: Die Aktion. Heft 43/44. S. 593-598.
Peter Kropotkin 1882: Theorie und Praxis, in: ders. Worte eines Rebellen. Reinbek: Rowohlt Verlag, 1972. S. 170-175.
Nie wieder Kommunismus?. Zur linken Kritik an Stalinismus und Realsozialismus.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-89771-511-0.
228 Seiten. 14,80 Euro.