Verteidigungen des Anarchismus
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- Gabriel Kuhn
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- Texte zum Anarchismus
Gabriel Kuhn nimmt in dem Buch „Vielfalt – Bewegung – Widerstand“ Stellung zu unterschiedlichen inneranarchistischen Diskussionen. Eine Lektüre, die sich lohnt.
„Anarchismus bedeutet Vielfalt, Bewegung und Widerstand“. (S. 141) Mit diesem Statement endet der letzte Beitrag der Aufsatzsammlung von Gabriel Kuhn, in dem sich acht Aufsätze und zwei Interviews zum zeitgenössischen Anarchismus finden. Den Aufsätzen ist gemein, dass sie Respekt einfordern für unterschiedliche anarchistische Traditionen, Schwerpunkte und Perspektiven, aktuelle Debatten aufgreifen und einen solidarischen Umgang darin vorschlagen. Wer Kuhns Buch „‘Neuer‘ Anarchismus in den USA“ gelesen hat, wird in dieser Aufsatzsammlung einige spannende Ergänzungen und Stellungnahmen zu US-amerikanischen Auseinandersetzungen finden. Das Buch sei jedoch auch allen anderen ans Herz gelegt, denn dass die meisten hier angesprochenen Debatten hauptsächlich in US-amerikanischen Kontexten stattfinden, macht diesen Band nicht weniger interessant für deutschsprachige Diskussionen. Zum einen finden wir zu etlichen US-amerikanischen Kontroversen ihre hiesigen Pendants, zum anderen werden hier von Gabriel Kuhn etliche Prinzipien präsentiert, die dazu beitragen können, anarchistische Politik solidarischer, offener, glaubwürdiger und damit stärker zu machen.
Akademische Label
In „Bakunin vs. Postanarchismus“, ursprünglich im Bakunin Almanach erschienenen, setzt sich Gabriel Kuhn mit dem Label des Postanarchismus auseinander und fragt vor allem, was denn daran „post“ sei. Vier postanarchistische Theoretiker und deren Hauptschriften werden dargestellt und deren zentrale Thesen zurückgewiesen. Sie alle sind sich weitestgehend darin einig, dass der Poststrukturalismus dem „klassischen“ oder „traditionellen“ Anarchismus dessen vorgeblichen Essentialismus nehmen, während der Anarchismus den Poststrukturalismus um dort vermeintlich fehlende Konzepte der Ethik und des Widerstandes bereichern könnte. Der konstatierte Essentialismus Bakunins wird von Kuhn ebenso kenntnisreich bezweifelt wie festgestellt wird, dass der Poststrukturalismus durchaus relevante ethische Prinzipien vertritt. Ähnlich wie bei der Begriffsschöpfung des „neuen“ Anarchismus werde, so Kuhn, mit „Postanarchismus“ suggeriert, etwas Neues erfunden zu haben, was sogar so neu sei, dass es eines neuen Begriffs bedürfe. Das vermeintlich „Alte“ wird damit zugleich als monolithisch, kontroverslos und erstarrt dargestellt, aber:
„Der Poststrukturalismus, der im Postanarchismus präsentiert wird, ist um nichts anarchistischer als der Poststrukturalismus der 70er Jahre, und der Anarchismus, der in ihm präsentiert wird, ist in seinen Grundüberzeugungen kein anderer als der, der er immer schon war“. (S. 31)
Die Kritik am Begriff des Postanarchismus soll hier aber freilich keine Ausschließlichkeit zwischen Poststrukturalismus und Anarchismus vermitteln. Sowohl kann es zu sinnvollen poststrukturalistischen Lesarten des Anarchismus kommen, als auch kann der „Poststrukturalismus (...) als eine der theoretischen Ausdrucksformen des Anarchismus“ (S. 37) analysiert werden. Postanarchistische Theoretiker_innen allerdings sollten sich, so die Quintessenz des Beitrags, besser auf die Reflexion ihres akademischen Habitus konzentrieren, der zur Debatte maßgeblich beigetragen habe, statt anarchistische Traditionen, revolutionäre Lebensformen, konkrete Kämpfe und Kämpfer_innen dieser akademischen Kritik preiszugeben.
Der folgende Aufsatz, „Anarchismus, Postmoderne und Poststrukturalismus“, erstmals veröffentlicht im „Contemporary Anarchist Studies Reader“ ergänzt den vorherigen Text um einige Aspekte. Vor allem wird hier expliziert, wie poststrukturalistische Theorie anarchistische Praxis bereichern kann. Genannt werden u.a. Foucaults Machttheorie, Derridas Dekonstruktion, Guattaris und Deleuzes Schizoanalyse, die Kritik des Subjekts, das Denken in Mannigfaltigkeiten, die Ablehnung des Wahrheitsanspruchs und der Repräsentationspolitik, die Betonung des Minoritären, das Konzept der normadischen Einheit und die Konzentration auf unmittelbare Kämpfe. Diese Ideen seien vielversprechend, um anarchistische Kämpfe zu inspirieren und „sie zu unserem Leben in Beziehung zu setzen“. (S. 56)
Solidarität statt Fraktionskämpfen
Weniger deutlich positioniert sich Gabriel Kuhn in dem Konflikt um den „neuen“ Anarchismus, der sich in Folge der Anti-WTO-Proteste in Seattle 1999 entwickelte. Aber hier geht es wohl auch nicht schlicht um eine akademische Neudefinition des Anarchismus, sondern um unterschiedliche anarchistische Praxen. In dem Beitrag „Neuer Anarchismus“, ursprünglich 2003 bei dem übrigens sehr zu empfehlenden Online-Portal Alpine Anarchist Productions (http://www.alpineanarchist.org) erschienen, stellt sich Kuhn zwischen die Stühle. Zwar stellt er sich eindeutig gegen post-linke Ansichten des „neuen“ Anarchismus, verteidigt aber auch subkulturelle Prioritierungen in der Auseinandersetzung zwischen sogenannten Lifestyle-Anarchist_innen und Sozialanarchist_innen (also zwischen Politisierung des Privaten und Klassenkampf). Der Autor plädiert auf gegenseitige Achtung und Respekt, denn: „Es ist einer der bedauerlichsten Aspekte linker Geschichte, dass sektiererische Tendenzen und Fraktionskämpfe das Wachstum und die Entwicklung linker Bewegung verhindert, sie gespalten und geschwächt und ihres revolutionären Potentials beraubt haben“. (S. 70) Alle Anarchist_innen, ob „klassisch oder neu“ sollten „in einer starken Bewegung zusammenfinden können“ (S. 71)
Der Text „Militanz und Schwarze Blöcke“ diskutiert die Gewaltfrage, die in deutschsprachigen anarchistischen Debatten ebenso immer wieder aufscheint, wie in US-amerikanischen Kontexten. Auch hier wird vom Autor auf Solidarität statt Grabenkampf gesetzt. Zum einen kritisiert Kuhn, dass sich die Argumente anarchistischer Pazifist_innen, mit denen Militanz abgelehnt wird, oftmals kaum von denen bürgerlicher Kritik unterscheiden, zum anderen kritisiert er ein unverantwortungsvolles Vorgehen mancher Militanter. In jedem Falle helfen Polemiken und Dogmatismus solidarischer Debatte nicht weiter: „Allgemein gesagt halte ich Menschen, die sich im Besitz der moralischen Wahrheit glauben, für weit gefährlicher als Leute, die ihre Gesichter hinter Tüchern verbergen, um Nike-Symbole von Mauern zu reißen“. (S. 76) Pragmatische pazifistische Kritik an der Rolle von Militanz hingegen hält Kuhn für einiges sinnvoller als moralische, denn bei letzterer stellt sich schließlich die Frage, „ob es gute moralische Gründe dafür gibt, vom Einschlagen einer McDonald’s-Filiale abzusehen“. (S. 75) Solidarische Kritik an bestimmten militanten Praxen müsse sagbar bleiben, an Trivialisierungen von Gewalt ebenso wie an Mackertum und Ritualisierungen.
Ein Plädoyer für internationale Solidarität ist der Text „Anarchismus in den Philippinen und transnationale Politik“, der in der philippinischen Zeitschrift Gasera erstveröffentlicht wurde. Kuhn diskutiert Formen der Zusammenarbeit, die sich der verschiedenen gesellschaftlichen und sozialen Positionen der Akteur_innen bewusst sind, gleichzeitig aber nicht paternalistischen und (neo)kolonialen Praxen Vorschub leisten. Der Aufsatz beschäftigt sich vor allem mit den internationalen Dimensionen anarchistischer Politik und präsentiert Vorschläge zu einer solidarischen transnationalen Politik, die globalen ökonomischen Ungerechtigkeiten zu trotzen vermag.
Back to the roots?
In einem folgenden Interview mit der Feministin Claudia von Werlhof kritisiert diese anarchistische Praxen hinsichtlich inhaltlicher Leerstellen und ästhetisch/kultureller Dimensionen. Zum einen müsse sich der Anarchismus stärker mit Subsistenzfragen beschäftigen, zum anderen sei die anarchistische Szene stark männlich geprägt. Von Werlhof meint damit nicht nur die zweifellos vorhandene männliche Dominanz des historischen und zeitgenössischen Anarchismus, sondern sie attestiert anarchistischen Frauen, sich „als Männer oder als soetwas ähnliches wie Männer beweisen zu müssen“ (S. 97). Kurz: Anarchistische Frauen lachen nicht, so die zweifelhafte Beobachtung von Werlhofs. Um die für die Interviewte vom Anarchismus unbeantwortete Frage „Wie können wir das Leben neu organisieren?“ (S. 101) dreht sich das Interview mit einem „Agenten“ des US-anarchistischen CrimethInc.-Kollektivs. Der CrimethInc.-Aktive erläutert, wie durch „militante Arbeitslosigkeit“ jenseits von Lohnarbeit Potentiale entfaltet werden könnten, die antikapitalistischen Widerständen zu Gute kämen. Es geht ihm darum, außerhalb bestehender Ökonomien (soweit das geht) revolutionäre Experimente anzustrengen, eine Gesellschaft jenseits autoritärer Institution und Massenproduktion nicht nur zu denken, sondern zu leben.
„‚Rewilding‘ or ‚Regressing‘?“ – darum geht es in Kuhns Aufsatz zum wohl umstrittensten zeitgenössischen anarchistischen Phänomen, dem Anarchoprimitivismus. Die Auseinandersetzung mit dieser überwiegend US-amerikanischen Bewegung, mit ihrem antilinken Habitus, mit ihren Ideologisierungen und mit dem Anspruche einer „reaktionären Überwindung der Reaktion“ (S. 120) kritisiert zugleich gewisse Anwürfe gegen Primitivist_innen, die diese allzu leichtfertig der Rechten zurechnen,
„denn der Wille und die Überzeugung eine ‚bessere Welt‘ zu schaffen, eine Welt ohne Herrschaft, Ausbeutung, Patriarchat oder Rassismus, eine Welt, die von Selbstbestimmung, Egalität und Solidarität geprägt ist, dürfen wir den PrimitivistInnen nicht absprechen“. (S. 120)
Kuhn resümiert, dass der Primitivismus, will er es vermeiden ins reaktionäre Lager abzudriften, ein klares Bekenntnis zu progressiver Politik ablegen müsse.
Wer bis hierhin gelesen hat, was durchaus nicht schwer fallen dürfte, wird mit zwei weiteren ausgezeichneten Aufsätzen am Ende des Buches belohnt. Die bisher vertretenen starken Prinzipien der Solidarität, der Pluralität und der Abwehr von Ideologisierung werden hier konsequent auf den Punkt gebracht.
Offenheit, Dynamik und Diversität
„Anarchistische Visionen“ diskutiert die Differenzen zwischen sogenannten „Individual/Lifestyle-AnarchistInnen“ und „SozialanarchistInnen“, Debatten, wie wir sie mitunter zwischen Subkultur und Syndikalismus finden. Gabriel Kuhn wehrt sich gegen pauschale und selbstgerechte Zuschreibungen, die je nur das eigene als „politisch“ beschreiben und dem je anderen das „Politische“ absprechen oder gar die Deutungshoheit über den Anarchismus beanspruchen. Sich auf anarchafeministische Theoretikerinnen beziehend, plädiert Kuhn für einen Umgang, der die gemeinsame Vision einer befreiten, herrschaftsfreien Gesellschaft als verbindendes, starkes Band unter Anarchist_innen begreift, statt sich eitlen Rivalitäten hinzugeben.
Der letzte Text der Sammlung wurde vom Autor auf dem Anarchie-Kongress in Berlin 2009 präsentiert. „Anarchismus im 21. Jahrhundert? Herausforderungen, Möglichkeiten, Perspektiven“ diskutiert vor allem Anforderungen, die die anarchistische Bewegung an sich selbst stellen sollte, mit ihrer weißen, männlichen, sozial privilegierten Dominanz umzugehen. Zu einer selbstkritischen Analyse gehört ein glaubwürdiger Umgang mit diesen Fakten. Statt Verleugnung, „Lamentierung“ oder paternalistischen Rekrutierungsversuchen wird eine „Verbündeten-Politik“ vorgeschlagen, in der anarchistische Männer feministische Kämpfe unterstützen und weiße Anarchist_innen solche von People of Color. Unterstützung meint eine Solidaritätsform, die keinesfalls eine leitende Rolle beansprucht. Als „glaubwürdige Verbündete zu agieren“ (S. 135) begünstigt auch eine Offenheit der Szene und „jede Szene profitiert von Offenheit, Dynamik und Diversität“. (S. 135) Bündnisfähig zu sein heißt auch, von Separatismus-Vorwürfen abzusehen, wenn es zu autonomen Organisierungsvorgängen unter Frauen oder People of Color kommt. „Solche Vorwürfe haben höchstens zur Folge, dass alle Bindungen reißen und unüberbrückbare Gräben aufbrechen.“ (S. 136) Neben der Frage nach möglichen Bündnissen wird auch in diesem Text auf mitunter unsolidarische Debatten zwischen Anarchist_innen bezüglich Fragen nach Militanz, Lifestyle, Organisierungsform, Technologiekritik etc. eingegangen und respektvoller Austausch statt Feindseligkeit gefordert. „Das vereinende anarchistische Band darf nie aus den Augen verloren werden, wenn wir eine effektive politische Bewegung sein wollen.“ (S. 138) Gabriel Kuhn fasst zusammen, dass es heute zwei wichtige Aufgaben des Anarchismus gibt. Die eine liegt im Aufbau und in der Pflege internationaler Netzwerke, die andere darin, Exklusivität und Uniformität zu überwinden, denn „Anarchismus bedeutet Vielfalt, Bewegung und Widerstand“. (S. 141)
Vielfalt - Bewegung - Widerstand. Texte zum Anarchismus.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-89771-497-7.
141 Seiten. 13,00 Euro.