Pardon, wir hätten da mal was zu sagen!
- Buchautor_innen
- Sineb El Masrar
- Buchtitel
- Muslim Girls
- Buchuntertitel
- Wer wir sind, wie wir leben
Die jetzigen Muslim Girls, wie meist schon Ihre Eltern in der BRD geboren, haben je ganz eigene, bewegte und interessante Lebensgeschichten - eine Selbstverständlichkeit, die leicht entgleitet, wenn mal wieder die „Vorurteilshamster in den Köpfen auf Hochtouren“ laufen.
„Das Bekenntnis: ‚Ich heiße Fatma, bin Muslima und das ist auch gut so‘, klingt in den Ohren mancher eher wie ein bemitleidenswertes Statement denn wie ein hippes Großstadtpostulat, mit dem frau zur Regierenden Bürgermeisterin von Berlin aufsteigen kann. In der Regel wird nicht mit uns geredet, sondern gerne über uns. Wenn uns dann jemand nicht wieder in Frage, sondern eine Frage stellt, dann sind das Fragen meist dieser Art: Kannst du auch Islamisch sprechen? Würdest du deine Tochter auch beschneiden? Darfst du hier im Schwimmbad überhaupt schwimmen? Bist du schon jemandem versprochen? Wurde dein Mann von deiner Familie ausgesucht? Haben deine Eltern kein Problem damit, dass du hier im Ausland arbeitest? Oder ganz kreativ: Gehst du auch mit Kopftuch unter die Dusche? Ja, so macht es Spaß, in Deutschland zu leben. Wer braucht schon einen Glückskeks mit Sprüchen, wenn man stattdessen fortwährend Überraschungsfragen gestellt bekommt, die uns eigentlich auch schon nicht mehr überraschen können.“ (S. 16)
Die vielfältigen und individuellen Lebensgeschichten der „Muslim Girls“
Sineb El Masrar fängt ganz vorne an, da wo bei vielen gleich die „Vorurteilshamster in den Köpfen auf Hochtouren“ (S. 16) laufen. Denn da wo „wir“ mittlerweile bei queer ankommen und Lesben und Schwule gern auf ihre Vielfalt und ihre ganz individuelle Einzigartigkeit verweisen, sind Menschen mit dunklen Haaren oft nur eines: Muslime. Muslimische Frauen werden bemitleidet, ihre Emanzipation wird selbst zentrales Interesse der bayrischen Hausfrau, die in absoluter ökonomischer Abhängigkeit ihres Ehemannes steht. El Masrar verlangt nur eines: Zuhören. Und da das bislang kaum jemand möchte, macht sie mit diesem Buch einen Anfang – und erzählt erst einmal. Sie beschreibt wer denn eigentlich diese Muslim Girls sind, wer ihre Eltern, wer ihre Brüder sind. Und es wird gleich eines offensichtlich, es sind vielfältige, ganz individuelle Lebensgeschichten, die erst erfahrbar werden, wenn man miteinander spricht. Geboren in Hannover, aufgewachsen in der niedersächsischen Provinz, mit Ausbildungen zur Erzieherin und Kauffrau, tätig in Grundschulen, in der Filmbranche und in einem von ihr gegründeten multikulturellen Frauenmagazin, Teilnehmerin der Deutschen Islam Konferenz, legt El Masrar dieses kenntnisreiche und amüsant geschriebene Buch vor.
Basics muslimischer Religion und die Geschichte der Gastarbeiter in der BRD
Sie gibt einen kurzen Einblick in muslimische Religion, in die muslimische Geschichte Deutschlands – von der ja der Innenminister Friedrich leider keine Kenntnis hat. Sie berichtet, wie seit den 1950er Jahren zunächst „Gastarbeiter“ aus Italien in die BRD kommen sollten, später dann welche aus Griechenland, Spanien, der Türkei, Marokko und Tunesien folgten, darunter auch Muslime und Muslimas. Wer sich fragt, warum zunächst gerade die Länder Italien, Spanien und die Türkei, den verweist El Masrar auf die deutsche Geschichte, auf die Bündnisse Nazi-Deutschlands mit dem faschistischen Italien und Spanien und auf das Bündnis mit dem Osmanischen Reich schon während des Ersten Weltkrieges. Die „Gastarbeiter“ sollten insbesondere schwere Arbeiten im Straßen- und Brückenbau verrichten, kamen dann auch in größere Maschinenbauunternehmen. Entsprechend stellte sich auch der familiäre Hintergrund dar: Viele kamen, um der Arbeitslosigkeit im Herkunftsland zu entfliehen, die Bildung war eher gering, viele hatten gar keine Schule besuchen können. Lange Zeit wurde in der BRD darauf gesetzt, dass die „Gastarbeiter“ wieder gehen sollten – Bildungsangebote wurden nicht auf sie ausgerichtet. Wohnungen wurden nicht selten direkt in der Nähe der Betriebe errichtet. Damit wurde einerseits eine soziale Abtrennung erreicht, andererseits wurden die Arbeitenden an ihre Arbeitsverhältnisse gekettet – fiel der Arbeitsplatz weg, war auch die Wohnung futsch. Mehr und mehr stellte sich heraus, dass die Arbeitsverhältnisse dauerhafter wurden – die Menschen richteten sich ein, gründeten Familien, Kinder kamen zur Welt – u.a. die Muslim Girls oder ihre Großeltern- oder Elterngeneration.
An ihren Kindern interessierte Eltern, ohnmächtige Schulen
Die soziale Ausgrenzung wurde nicht aufgehoben. Schulen richteten sich erst ganz langsam auf Kinder ein, deren Eltern nicht oder nur sehr begrenzt deutsch sprachen. Einige Eltern brachten Schulen durchaus Skepsis entgegen, hatten sie doch selbst keine besuchen können und wollten sie einfach ein abgesichertes und gutes Leben für ihre Kinder, was – nach ihrer Erfahrung – auf eigener harter Arbeit basierte. Aber auch Unterstützungsleistung für Hausaufgaben konnten die Eltern so in vielen Fällen nicht erbringen, Briefe der LehrerInnen an die Eltern mussten die Kinder nicht selten selbst vorlesen. Geschweige denn, dass durch eine besondere vorschulische und schulische Förderung dieser Lernnachteil der Kinder aus Familien italienischer, griechischer, türkischer Herkunft ausgeglichen worden wäre und dass sich die LehrerInnen für die Kommunikation mit den Eltern – die an ihren Kindern in aller Regel sehr interessiert waren – mehr Zeit genommen hätten, waren die Schulen auf diese Kinder nicht eingerichtet, die LehrerInnen überfordert. Durch eine rasche Selektion im BRD-Schulsystem wurde die Benachteiligung manifest – der Besuch des Gymnasiums blieb oft verwehrt. Einige Kinder schafften es dennoch, „dem deutschen Schulsystem zum Trotz“ (S. 64) und meist durch glückliche Zufälle, wie engagierte Geschwister oder interessierte NachbarInnen. El Masrar selbst fand in der Mutter der Schulfreundin ihren persönlichen „rettenden Engel“ (S. 74). Aber El Masrar macht auch andere familiäre Hintergründe deutlich: So flüchteten aus dem Iran, in einer wechselvollen Geschichte, insbesondere Menschen intellektueller Schichten – insgesamt 120.000 Menschen. Diese waren an der Bildung ihrer Kinder sehr interessiert und ließen ihnen gute Förderung zukommen. Aber auch das konnte zuweilen nicht helfen, wenn die LehrerIn nicht wollte. Bildung! – Die Autorin plädiert für eine umfassende Reform, die anerkennt und fördert, anstatt zu behindern und früh auszulesen. Kindergarten und eine Schule orientiert am finnischen Bildungssystem sind für sie Grundbedingung.
Klar wird durch die tiefgehenden Schilderungen der Autorin, dass es offenbar ganz andere Gründe als die derzeit viel postulierten gibt, die dazu führen, dass Aus- und Abgrenzung zwischen Menschen gefördert werden – und dass es genauso anders ginge: Es könnte das Miteinander von Menschen gefördert werden. Erläutert sie hierzu sehr differenziert die unterschiedlichen historischen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen je nach Herkunftsschicht und Herkunftsland, macht sie ebenso deutlich: Die jetzigen Kinder, auch die jetzigen Muslim Girls, sind die dritte oder vierte Generation die in der BRD lebt und sie haben je ganz eigene, bewegte und interessante Lebensgeschichten. Trotz oft schwierigerer Bedingungen als sie viele Kinder aus „deutsch-deutschen“ Familien hatten (und haben), haben nicht wenige „Karriere gemacht“, ob als Krankenschwester, in einer Bäckerei, als Redakteurin bei einem Musiksender oder als Journalistin. Sie haben ein ganzes Leben – und auch ganz eigene Gründe, Muslima zu sein. Pauschal bekommt man sie nicht zu fassen.
Eine „sexuelle Revolution“ gab es im Christentum genauso wenig wie im Islam
Und auch zu Sexualität und dem Vorwurf, dass es im Islam keine „sexuelle Revolution“ gegeben habe, hat El Masrar bedenkenswertes anzumerken: Eine „sexuelle Revolution“ hat es nämlich im Christentum genauso wenig wie im Islam gegeben. Vielmehr geht es um gesellschaftliche Modernisierungen – Modernisierungen im Land:
„christliche Würdenträger [predigen] heute noch sexuelle Enthaltsamkeit, wettern gegen Verhütung und diffamieren homosexuelle Beziehungen. Warum sollte es eine sexuelle Revolution im Islam geben, die es auch im Christentum nie gab?! Wenn eine repressive Sexualmoral den Aufbau von Demokratie tatsächlich verhindert, wie Seyran Ates behauptet, dann stellt sich nur zu Recht auch der Sachbuchautorin Sabine Kebir die Frage: Warum konnte sich Demokratie sowohl in den USA wie auch in der Bundesrepublik Adenauers entwickeln?“ (S. 31)
Gesellschaftliche Modernisierung heißt damit ganz offensichtlich unbedingte Trennung von Religion und Staat – und dafür ist in der BRD noch viel zu tun! So kann es nicht sein, dass die fast vollständig aus staatlichen Geldern finanzierten christlich-kirchlichen Kindergärten und Schulen noch immer Kinder aus nicht-christlichen Religionen und von atheistischen Eltern ablehnen können und dass in diesen Einrichtungen und in kirchlichen Krankenhäusern und Pflegeheimen – die übrigens auch staatlich finanziert werden! – Angestellte wegen der „falschen“ Religion, ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität diskriminiert und entlassen werden dürfen. Bildung, die Betreuung von Menschen in Kindergärten, Schulen, Behindertenwerkstätten, Krankenhäusern und Pflegeheimen ist eine staatliche, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe – und keine religiöse. Durch einen Abbau dieser Diskriminierungen und einer unbedingten Trennung von Staat und Kirchen ergäben sich weitere Perspektiven für ein Miteinander, für Respekt und Akzeptanz – auch für Muslim Girls.
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Die Rezension erschien zuerst bei Rosige Zeiten (Nr. 134, Juli/August 2011)
Muslim Girls. Wer wir sind, wie wir leben.
Eichborn Verlag, Frankfurt.
ISBN: 9783821865331.
208 Seiten. 14,95 Euro.