Der Aufstand, der immer schon ankam
- Buchautor_innen
- AG Schwarz / Tasos Sagris & Void network (Hg)
- Buchtitel
- Wir sind ein Bild der Zukunft – auf der Straße schreiben wir Geschichte
- Buchuntertitel
- Texte aus der griechischen Revolte
Lang vor den Pressionen der EU gegenüber Griechenland hatte sich ein Aufstand gegen die Regierung entzündet. Ausgelöst wurde dieser von der Tötung eines Schülers Dezember 2008 in Exarchia/Athen.
Die verängstigten Zuschauer bei Anne Will oder bei Plasberg müssen alle zu dem Eindruck gekommen sein, erst seit dem wachsenden Druck auf Griechenland gäbe es Demonstrationen, Hausbesetzungen, Anschläge in Athen und anderswo. Unsere Medien lassen mehr nicht durch. Überraschend deshalb für viele die Mitteilung, dass der Aufstand schon im Dezember 2008 eine erste Intensität gewonnen hatte, lange bevor es dem Staat Hellas an den Kragen gehen sollte. „Wir sind ein Bild der Zukunft- Auf der Straße schreiben wir Geschichte“ versucht, in vielen Einzelbekenntnissen aber auch ganzen Aufsätzen, die Entwicklung seit Dezember 2008 zu vergegenwärtigen.
Ausgangspunkt
Vorausgeschickt werden muss, dass Griechenland eines der Länder war, die im Widerstand gegen die Nazi-Besetzung am erfolgreichsten waren. Sie hatten den Deutschen so zugesetzt, dass die sich 1944/45 zum Abzug entschlossen. Griechen, die unmittelbar nach 1945 in einem langen Bürgerkrieg sich des englischen Einflusses zu erwehren suchten. Die ab 1968 über Jahre hin eine Militärdiktatur zu bekämpfen hatten. Wozu die Erinnerung? Um zu erklären, dass in Griechenland der Einsatz von körperlicher Gewalt ganz anders gesehen wird als zum Beispiel in Deutschland. Er wird in weiteren Kreisen als bisweilen unvermeidlich angesehen, wenn auch nirgends als Selbstzweck gebilligt. Die Dokumentation des Buches über den Kampf der Autonomen und Anarchisten in Griechenland enthält eine aufschlussreiche Chronologie der aktuellen Ereignisse.
6. Dezember 2008: Ein jugendlicher Anarchist – Alexandros Grigoropoulos, 15 Jahre – wird im Lauf einer Auseinandersetzung von einem Polizisten erschossen. Das geschah im Stadtteil Exarchia in Athen. Einem Ort, der nach verbreiteter Ansicht als autonom angesehen werden sollte. Auf keinen Fall Ort eines brutalen Polizeieinsatzes. In unbegreiflicher Schnelligkeit kommt es im Lauf von Stunden zu Plünderungen in Luxusstraßen, Universitätsbesetzungen und Hungerstreiks in den Gefängnissen. Und aufgegriffen wird der Impuls in ganz Griechenland von einem Ende zum andern. In Deutschland kam es in meiner Lebenszeit ein einziges Mal zu solcher übergreifend massenhaften Erregung: nach dem Anschlag Bachmanns auf Rudi Dutschke. Kein einziges Mal mehr später bei all den Todesfällen (Erschießungen) die folgten. Wenn in allen folgenden Texten von Dezember die Rede ist, dann sind immer die bürgerkriegsähnlichen Konfrontationen 2008 gemeint. In allen Berichten spielen Polytechnikum und Unis deshalb eine besondere Rolle, weil offenbar nach dem studentischen Beitrag zum Sturz der Putschisten den Unis totaler Schutz vor Polizeieingriffen zugesagt worden war. Als Anerkennung sozusagen. Es kann also nicht wie in Österreich und anderswo eine Uni einfach geräumt werden. Wenn doch Versuche in dieser Richtung gemacht werden, dann ist das das Signal zu massenhaftem Aufbegehren. Schrecksignal für jede Regierung, die keinen zusätzlichen Ärger möchte. Organisationsform: Ausschließliche Verfügung über alle Aktionsformen hat die Vollversammlung. Pavlos und Irina, zwei Teilnehmer_innen am Gesamtverlauf, schreiben:
„Kein Organ konnte Entscheidungen für die Besetzung fällen außer der Vollversammlung. Das war keine Studentenversammlung, vielmehr trafen sich dort alle, die an der Besetzung und den Auseinandersetzungen teilnahmen. (...) Die unterschiedlichen Fakultäten waren nicht getrennt. Einige linke Studenten versuchten, die Fakultäten zu spalten und in der ersten Woche versuchten wir, mit ihnen zusammenzuarbeiten, ihnen Raum für eigene Aktivitäten zu geben, aber sie versuchten weiter, die Vollversammlung zu umgehen, und Teile des Polytechnikums für sich allein zu besetzen, um es unter der Hand wie einen Kuchen aufzuteilen. Natürlich wurden sie hinausgeschmissen." (S. 127)
Vollversammlung also als einzige Autorität. Diese aber diktatorisch ausgeübt. Der Aufruf zu einer neuen Internationalen will die Uni verlassen, alle Grenzen überwinden.
„Wenn wir die Banken zerstören, dann weil wir Geld als eine der zentralen Ursachen für unsere traurige Lage erkennen; wenn wir Schaufenster zerschlagen, dann nicht, weil das Leben teuer ist, sondern weil uns die Ware um jeden Preis am Leben hindern will. Wenn wir den Polizei-Abschaum angreifen, dann nicht, um unsere toten Genossen zu rächen, sondern weil sie immer ein Hindernis sein werden zwischen dieser Welt und der Welt, nach der es uns verlangt.
Wir wissen, dass es für uns an der Zeit ist strategisch zu denken. In diesen imperialen Zeiten wissen wir, dass es eine Bedingung für einen siegreichen Aufstand ist, dass er sich mindestens auf europäischer Ebene ausdehnt. Wir haben in den vergangenen Jahren vieles gesehen, von dem wir lernen konnten: die weltweiten Gegengipfel, Revolten der Schüler in Frankreich, die Bewegung gegen den TAV-Schnellzug in Frankreich, die Kommune von Oaxaca, die Riots von Montreal, die offensive Verteidigung des besetzten Undomshuset in Kopenhagen, die Riots gegen den Parteitag der US-Republikaner und so weiter." (S. 167)
Das stammt vom Januar 2009. Inzwischen haben wir Mai 2011. Der unabweisbare Einwand: Was davon hat sich inzwischen erfüllt? Antwort: Nichts. Die hochfahrenden Wünsche sind inzwischen zerfallen. Welche Folgerungen hat die Bewegung daraus gezogen?
Folgerungen.
7.März 2009:
„In Exarchia rissen 4000 Menschen die Bauzäune eines leerstehenden Geländes ab, auf dem ein Parkhaus errichtet werden sollte. Sie brachen den Asphalt mit Presslufthämmern auf, pflanzten Bäume und eröffneten einen freien Park, fünfzig Meter von dem Ort entfernt, an dem Alexis ermordet wurde." (S. 263)
Ein gelungener Versuch der Anarchisten, durch aufbauende Gewaltanwendung allen Bewohnern von Exarchia einen dauerhaften Versammlungsort zu verschaffen: „Ein Besucher rief: ‚Weißt Du, was das Beste an der ganzen Sache ist? All die alten Leute zu sehen, die den Park anschauen und glücklich sind.‘ ‚Nein‘, unterbrach ein griechischer Anarchist, ‚das Beste daran ist, dass das der Stadt neun Millionen gekostet hat.‘“ (S. 270) Ein Beweis dafür, dass auch gelernte Anarchisten Schwierigkeiten haben, sich vom Geldwert als Maß des Gelingens loszureißen. Der Erfolg kann und darf nur, wie der erste Besucher richtig meinte, am realen Genuss gemessen werden, an den erweiterten Lebensmöglichkeiten.
Zunächst hieß es also Rückzug auf das vertraute Viertel Exarchia. In der kollektiven Auflehnung gegen die Pläne des Bürgermeisters. Um über den Kreis der schon Gewonnenen hinauszukommen. Aber auch das war nur ein kleiner Schritt. Warum greift die Bewegung trotz allem nicht weiter um sich? Alkis (S. 283ff), überprüft die Techniken der Gegenseite, die der Eingrenzer. Außer dem direkten gewaltmäßigen Zuschlagen des Staates durch Polizei, Gericht und Knast findet er als gefährlicheren Feind die Behandlung seiner Bewegung durch die Medien. Wie er feststellt – und was sich auf fast alle europäischen Länder übertragen ließe – wirken die Medien durch Spaltung. Den mal als liebenswert erklärten Schülern werden die satanischen Studis gegenübergestellt, die sie verführen. Oder auch mal umgekehrt: Den bildungshungrigen Studis treten die verworfenen Verführer aus der Anarcho-Szene gegenüber. Man kennt das. Der Doppelangriff des Zerschlagens und des medialen Spaltens wirkt bis heute, in Griechenland wie anderswo. Ein Aufsatz Spezialisierte Guerrilla, zerstreute Guerilla (S. 301ff) fragt sehr konkret nach, wie immer kompliziertere Aktionen, auch zum Beispiel Banküberfälle, auf die Menge derer wirken müssen, die rein technisch, oder auch altersbedingt so etwas nie nachmachen könnten. Wird damit die Menge nicht notwendig genau in den Stand bloßen Gaffens, des Zuschauertums zurückgetrieben, den doch die aktionsbetonenden Anarchistinnen und Anarchisten gerade bekämpft hatten? Entsteht aus jeder gelungenen Tat damit nicht neu das Spektakel, wie Debord es nannte, das auf das Sofa vor dem Fernseher zurückjagt, von dem der anarchistische Weckruf hochreißen wollte? In dieser Lage plädiert der Aufsatz für diffuse Guerilla, womit, das wird nicht völlig klar, einfachere Aktionen gemeint sein müssen, an denen sich aber auch ungelernte Kräfte beteiligen können.
Weltlage
Am merkwürdigsten berührt bei Durchsicht der immerhin 360 Seiten, wie selten konkret von der sich verschärfenden Finanzlage Griechenlands die Rede ist. Die Feuerzellen, eine Gruppe spezialisierter Guerilla nach der obigen Einteilung, erwähnen einmal die Krise. Nimmt sie aber als reinen fake. Getue der Oberen, um den anderen den Gürtel enger zu schnallen. Das ist sie natürlich für die PASOK-Regierung auch. Was bei der Argumentation der Feuerzellen allerdings völlig übersehen wird: Papandreou spürt ganz real den Würgegriff von IWF und EU am Hals. Er ist unterdrückter Unterdrücker. Was ihn natürlich in keinem Sinn entschuldigen kann. All seine Zwangsmaßnahmen, Rentenkürzung, Lohnsenkung, Umsatzsteuer-Erhöhung wirken noch ganz anders als die schon immer vorhandene Ausbeutung und Unterdrückung. Als existenzbedrohende Verschärfung für viele (Zu den Feuerzellen und ihre mögliche Verantwortung an den Brandbriefen 2010 siehe Artikel bei trueten.de).
Abstrakt sieht Alkis (S. 286f) in einem zusammenfassenden Aufsatz am deutlichsten das Problem. Er fragt sich, wie der Kontakt aufrechterhalten und vertieft werden kann mit Leuten, mit denen die Aktivisten in den Dezemberkämpfen zusammengekommen sind und zusammen gekämpft haben. Normalerweise ist zu erwarten, dass in Zeiten relativer Ruhe alle wieder sich in ihre Einzelwelten eingraben. Alkis meint:
„Der wichtigste Weg, uns mit ihnen persönlich zu treffen (...) sind die selbstorganisierten Versammlungen. (...) Die Beziehungen, die sich zwischen Anarchisten, Antiautoritären und anderen Mitgliedern der Gesellschaft entwickelt haben, erzeugen einen Wirbelwind und das Ergebnis ist unvorhersehbar. Auf jeden Fall ist es etwas Positives, da wir es nicht zulassen, dass sich Normalität und Entfremdung wieder einstellen." (S. 286)
Oberflächlich ließe sich das vergleichen mit dem Verhältnis zwischen Parteimitgliedern und Sympathisanten nach den Lehren der verschiedenen kommunistischen Parteien. Nur, dass bei Alkis und anderen hier eine Lücke klafft. Was nämlich sollte sich mitteilen im Kontakt zwischen dem gelernten Anarcho und seinen Bekannten? Bei den Kommunisten ist das die Lehre vom notwendigen Zerfall der Herrschaftseinrichtungen in der vorangeschrittenen Krise und von Eingriffen zu ihrer Zerschlagung. Von dieser Art Lehre ist im ganzen Buch nichts zu finden. Und doch müsste dieser Weg einer theoretischen Selbstbegründung gegangen werden. So dass jeder einzelne Erkennende und Erkannt-Habende im Zweifelsfall weiß, was er zu tun hat. Wo er eingreifen kann. Ohne erst auf eine Massenbewegung warten zu müssen, die ihn dann im Wirbel mitreißt.
Unvorhersehbarkeit
Die autonome und anarchistische Bewegung Griechenlands verschmäht es offenbar mehr als die Bewegung des kommenden Aufstands, wortlos einzuschreiten bei ihren Aktionen. Werden auch aus unvermeidlichen Gründen selten Nachnamen genannt, wird doch stärker als dort vorgesehen der Versuch gemacht, das Dunkel des Inkognito zu verlassen. Tatsächlich macht die griechische Bewegung aus einem Defizit einen Triumph. Aus der Unvorhersehbarkeit ihrer Reaktionen. Ist das für die Selbstausrichtung auf lange Zeit auch eine Gefahr, so bleibt es doch berechtigte Drohung gegenüber den Blut-Abzapfern der europäischen Banken. Ein Professor Sinn, der den Griechen vor kurzem über alle Fernsehkanäle ihre alte Drachme wieder aufbrummen wollte – samt zugehöriger Großpleite, hat immer noch die paar Aktiv-Elektronen im Hirn, die ihm klarmachen, dass die Rückkehr Griechenlands zur Drachme vor allem seine Lieblinge – die Banken Europas – am schwersten schädigen würde. Er setzt, offen eingestanden in einer seiner Verlautbarungen, trotzdem auf die Drohung. Dann könnten die aufsässigen Griechen nämlich mit ihrer eigenen Regierung machen, was sie wollten. Deutschland wäre aus dem Schneider. Metzgerisch deutlich ausgesprochen: Sinn und seine Horden haben Höllenangst vor dem, was sie nur ahnen können. Unberechenbarkeit der autonomen und anarchistischen Gruppen. Denen würde er die griechische Regierung gern zum Fraß hinwerfen, wenn nur er und sein liebes Deutschland davon nichts abbekämen.
Das Richtige, ja Beneidenswerte einer Bewegung wie in Griechenland: sie bestärkt die offenbar verbreitete Vorsicht – um den gelindesten Ausdruck zu wählen – gegenüber allen staatlichen Veranstaltungen. Es scheint tatsächlich eine Bewegung entstanden zu sein, die, ohne Wehleidigkeit, aber auch ohne Hysterie die Wunden, ja Verluste einsteckt, die sie erleidet, die aber auch austeilt, wo sie die Möglichkeit dazu sieht. Offenbar hat der griechische Staat im Lauf der Zeit zu viele Mitkämpfende zu Terroristen ernannt, als dass die Benennung noch so abschrecken könnte wie bei uns in Deutschland. Mit einem Wort: Es haben sich dort Leute in gewissem Sinn selbst erschaffen, die nie vergessen, dass sie im Krieg stehen. Einem Krieg, freilich, der ihrer Ansicht nach nie aufhören wird. Während dagegen die Anhänger von Marx mit viel Erkenntnis, aber wenig Hoffnung, trotz allem der Aussicht auf eine klassenlose Gesellschaft nachhängen. In welcher dann der Krieg ein Ende für immer gefunden hätte.
Wir sind ein Bild der Zukunft – auf der Straße schreiben wir Geschichte. Texte aus der griechischen Revolte.
Laika Verlag, Hamburg.
ISBN: 978-3-942281-82-9.
366 Seiten. 24,90 Euro.