Zum Inhalt springen

Memoiren eines Revolutionärs

Buchautor_innen
Peter A. Kropotkin
Buchtitel
Memoiren eines Revolutionärs Band I & II

Die Erinnerungen Kropotkins sind zu weitreichend, um sie an dieser Stelle nachzuerzählen - Anlass zur Würdigung bieten sie allemal.

Fürst Pjotr Kropotkin, gestorben am 8. Februar 1921, wurde fünf Tage später in Moskau – neben Proudhon und Bakunin einer der bedeutendsten Klassiker des Anarchismus – unter Anteilnahme einer vieltausendfachen Menschenmenge zu Grabe getragen. Es war das letzte Mal, dass Anarchisten und Marxisten sich auf den Straßen Moskaus frei bewegen konnten. Seitdem nie wieder!

Fürst Kropotkin hat auf seine alten Tage sein vielleicht schönstes Buch geschrieben: die Memoiren eines Revolutionärs. 1969 ist es im Insel-Verlag herausgekommen und wirkte trostreich auf alle, die selbst zwar empört waren - und wie! - aber zugleich ein schlechtes Gewissen hatten, weil sie im gewöhnlichen Leben immer das Gegenteil dessen taten, was ihnen eigentlich als richtig vorkam. Kam man aus der Gemengelage je heraus?

Da wirkte der Weg des Fürsten im zaristischen Russland vertrauenerweckend und beispielgebend. Er - unter dem Schlächterzaren Nikolaus geboren - selbst Abkömmling der Rurik-Familien, die vor den Romanows den Thron innegehabt hatten, schildert zunächst ganz ohne Groll die behütete Kindheit. Eine ohne Vater und Mutter. Mutter tot, Vater lebte noch und trainierte müde, um noch einmal den Familienvorstand und General zu markieren. Vor allen Ferien gab er seitenlange Ukase heraus, wie und von wo bis wo die Wagen mit Möbeln und Proviant ins Ferienhaus gefahren werden sollten. Die riesige Dienerschaft samt den Kindern hörte geduldig zu, nickte anständig und gab sich gleich an der nächsten Straßenecke dem freudigsten Gejohle hin. Chef weg! Drei Monate lang!!! Wie die Adligen im achtzehnten Jahrhundert in Frankreich wurden die Kinder dieser Grufties von allen anderen erzogen als von den eigenen Eltern. Ammen, Kindermädchen, Hauslehrer hatten sich zu kümmern - und taten das hingebungsvoll. Alles Leibeigene - die sich mit den Kindern identifizierten und gegen die Machthaber mit ihren Listen eisern zusammenhielten.

Die ewig langen Sommerferien! Die inhaltsleeren anstrengungslosen Auswendiglernstunden! Die behütete Zeit ohne Ende! Wie ein Turgenjew schildert der spätere Revolutionär so friedvoll die vergangene Welt. Wahrscheinlich findet nur der die Kraft zum härtesten Widerspruch, der das immer noch in sich findet - aufgehoben - was zu zerstören er doch auf sich nimmt. Und schaffte es wirklich, aus den Windeln der Privilegien sich herauszuwickeln. Er wird nicht nur Page beim neuen Zaren Alexander II, sondern gleich Sergeant der übrigen Pagen - Leibdiener sozusagen beim gesalbten Oberhaupt der Christenheit. Dennoch entschließt er sich am Ende der Kadettenzeit nicht für einen der herrlichen Regimentsposten, die ihm offen gestanden hätten, sondern für das verachtete Sibirien - und dort für Teile am Amurfluss, die erst vor kurzem annektiert worden waren.

Vom Bewunderer des Zaren, der - angeblich - die Bauern befreit hatte, wird Kropotkin allmählich zum Kritiker, als er entdeckte, dass alles auf ein riesiges Bauernlegen hinauslief. Wie in den USA gegenüber den Sklaven, ungefähr zur gleichen Zeit, fordert das Kapital eine Mobilisierung der riesigen Werte, die in den Leibeigenen und in deren Winzgütern sozusagen begraben lagen. Wie in Preußen wird den ehemaligen Gutsbesitzern als Entschädigung für den Verlust der Leibeigenen im Voraus Entschädigung gezahlt. Diese soll durch alljährliche Steuern - Abgaben - der Befreiten wieder hereinkommen. Das Unglück dabei nur, selbst aus kapitalistischer Sicht: es gab keine - oder kaum - produktiv gesonnenen Gutsbesitzer, die das gewonnene Geld produktiv z.B. für mechanische Pflüge oder Sämaschinen angelegt hätten. Das Geld wurde verplempert.

Kropotkin, noch als Offizier, benutzt die Zeit, um Vermessungen des unbekannten Amurgebiets zu machen. Was könnte man damit alles anfangen? Macht auch Reisen ins damals noch russische Finnland. Und immer deutlicher stellt sich die Frage: Wozu das? Abstrakt gesagt: Der wissenschaftliche Fortschritt, die Entwicklung der Produktivkraft wird zur Destruktivpotenz, wenn niemand etwas mit dem Erworbenen anfangen kann. Der Geologe und Agronom stellt sich die Frage:

„Was nützt es aber, zu diesem Bauern von amerikanischen Maschinen zu reden, wenn er kaum Brot genug hat, sein Leben von einer Ernte zur andern zu fristen, wenn die Rente, die er für die harten Lehmschollen zu zahlen hat, im selben Maße, wie der Boden durch seine Bemühungen besser wird, steigt?" (S. 280)

Einschätzung der Lage im Kindheitsgut Nikolskoje nach der Bauernbefreiung:

„Sie sind jetzt frei. Sie schätzen ihre Freiheit sehr hoch. Aber sie haben keine Wiesen. Auf die eine oder andere Weise haben es die Grundherren einzurichten verstanden, dass sie fast alle Wiesen besitzen (...) Familien, die früher drei Pferde besaßen, halten jetzt eins oder keins. Wozu ist aber ein einziges erbärmliches Pferd nütze? Keine Wiesen, keine Pferde, kein Dünger." (S. 281)

Was folgt daraus? Es müssen erst alle Verhältnisse umgestürzt werden, damit auch nur die kleinste Verbesserung verfängt. Im Anblick des Zaren - vor dem Abschied nach Sibirien - erscheint dem noch Unschlüssigen die Leere. Das unvermeidliche Verlorengehen. Die Verdunklung. Nach der Ernennung aus dem Pagencorps zum Offizier. Der Zar versammelt die neuernannten Offiziere um sich.

„In ruhigem Tone begann er: ‚Ich wünsche ihnen Glück. Sie sind Offiziere.‘ Er sprach dann von Soldatenpflicht und loyaler Gesinnung, wie es bei solchen Anlässen zu geschehen pflegt. ‚Sollte aber einer von ihnen‘, fuhr er fort, wobei er jede Silbe scharf betonte und sein Gesicht sich plötzlich vor Zorn verzerrte, ‚sollte einer von ihnen - was Gott verhüten möge - sich illoyal gegen Gott, Vaterland und den Zaren verhalten, merken sie wohl, was ich sage, so wird ihn die volle Strenge des Gesetzes treffen ohne das geringste Erbarmen.‘ Die Stimme versagte ihm, sein Gesicht trug einen feindlichen Ausdruck blinder Wut, wie ich ihn als Kind in den Gesichtern der Grundherren bemerkt habe, wenn sie ihren Leibeigenen drohten, sie bis aufs Blut peitschen zu lassen. Heftig stieß er seinem Pferde die Sporen in die Weichen und sprengte davon. Am nächsten Morgen wurden auf seinen Befehl in Modlin drei Offiziere erschossen, während ein Soldat, namens Szur, unter den Spießruten seinen Geist aufgab. [Im Rahmen der brutalen Niederschlagung des Polenaufstandes 1863, Anm. fg] ‚Reaktion, mit Volldampf rückwärts‘, sagte ich zu mir, als wir zum Korps zurückgingen." (S. 196)

Noch eine letzte Unterredung:

„Alexander fand mich heraus und fragte: ‚Fürchtest Du Dich nicht, so weit zu gehen?‘ (In gerade frischerschlossene Teile Sibiriens). Ich erwiderte mit Wärme: ‚Nein, ich will arbeiten. Es muss in Sibirien so viel zu tun geben, um die großen Reformen, die gemacht werden sollen, dort einzuführen.‘ Er schaute mir gerade ins Gesicht und wurde nachdenklich; schließlich sagte er: ‚Nun so geh! Man kann überall nützlich sein.‘ Und dabei nahm sein Gesicht einen so müden Ausdruck an, und verriet so völlige Willenlosigkeit, das ich sofort dachte: Er ist ein gebrochener Mann und wird alles aufgeben." (Ebd.)

Zuspitzung: Zwei Männer, Produkte der gleichen Klasse, am Kreuzweg. Einer im Versinken. Im Absprung der andre. Im Rückblick kommt Kropotkin noch einmal auf diesen Augenblick zurück. 1881. Nachdem die Gruppierung „Narodnaja Wolna" (zu dt.: Volkswillen) mit der allerletzten verbliebenen Bombe am Zaren gerechtes Gericht geübt hatte. Es hatte unter den gegebenen Umständen so kommen müssen.

Es kann hier nicht der ganze Weg Kropotkins nacherzählt werden. Nur eines noch: der Anblick Petersburgs, als Alexander II den Weg des Wüterichs eingeschlagen hatte und weiterstolperte. Kropotkin war lang weg. Was ist aus den Zukunftsplanern und Quasi-Liberalen geworden, denen 1861 die Backen schwollen vor lauter Reform und Perspektive? - Keiner traut sich mehr das leiseste Wort. Jeder schwört ab, jemals an etwas anderes gedacht zu haben, als an Selbstherrschaft und Majestätsbrummertum. Kropotkin schildert die Verbissenheit des Geheimdienstes, der alles niedertrampelt. Der jeden Anflug eines Gedankens mit Knast bedroht. Es darf nichts neues mehr geben! Mit vollem Recht, von den Herrschenden aus gesehen. Denn jeder Gedanke brächte nur eines heraus: Der Zar muss weg! Zusammen mit uns allen! Auch das nahm die Stimmung der mittleren 1970er Jahre für uns Leser vorweg. Mit vollem Mund das Fortschrittsbrot in der Mundhöhle wälzen - damit nur ja keine einzige Erkenntnis herauskommt.

(Die Besprechung basiert auf der Ausgabe des Insel Verlages von 1969, Zitate sind dieser Ausgabe zu entnehmen)

** Die Rezension erschien in einer ähnlichen Fassung zuerst im Februar 2011 auf trueten.de (Update: kritsich-lesen.de, ast, 04/2011)

Peter A. Kropotkin 2001:
Memoiren eines Revolutionärs Band I & II.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 3-89771-901-0 und 3-89771-902-9.
Zitathinweis: Fritz Güde: Memoiren eines Revolutionärs. Erschienen in: 140 Jahre Commune. 2/ 2011. URL: https://kritisch-lesen.de/s/4V8ZQ. Abgerufen am: 04. 12. 2024 09:04.

Zur Rezension
Rezensiert von
Fritz Güde
Veröffentlicht am
28. April 2011
Erschienen in
Ausgabe 2, „140 Jahre Commune” vom 28. April 2011
Eingeordnet in
Schlagwörter
Zum Buch
Peter A. Kropotkin 2001:
Memoiren eines Revolutionärs Band I & II.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 3-89771-901-0 und 3-89771-902-9.