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Ausgabe #64: Krieg und Frieden mit der NATO

Am 21. Februar 2022 erkennt Russland die ukrainischen Gebiete Donezk und Lugansk als Volksrepubliken an und bricht damit Völkerrecht. Kurze Zeit später fallen russische Bomben auf die Ukraine, russische Soldaten marschieren auf ukrainisches Staatsgebiet ein. Der Westen reagiert schnell – mehr oder minder. Während Sanktionen wie die Kündigung des SWIFT-Abkommens oder das Einfrieren der Vermögenswerte von russischen Oligarchen gerade von Deutschland nur zögerlichen Zuspruch bekamen, gab es noch Ende Februar die Zusage von Olaf Scholz, 100 Milliarden einmalig für Investitionen und Rüstungsvorhaben fließen zu lassen. Zusätzlich soll das von den USA lange abverlangte 2-Prozent-Ziel für die NATO nicht nur eingehalten, sondern jährlich übertroffen werden. Diese Zusage wird als Kehrtwende in der deutschen Außen- und Rüstungspolitik gewertet und hierzulande wie international größtenteils befürwortet. 76 Prozent der Deutschen Befürworten jüngst eine Einmischung Deutschlands im Falle eines Angriffs auf NATO-Staaten – was potenziell einen weiteren Weltkrieg zur Folge haben könnte. Die NATO, so scheint es, ist ein notwendiges Mittel für Frieden in Europa. Ein Blick in die Geschichte der NATO lässt an diesem westlichen Narrativ zweifeln – und erscheint dringlich wie lange nicht!

Russlands Einmarsch ist mit nichts zu rechtfertigen – daran kann es keinen Zweifel geben. Doch dass deshalb die NATO als westliches Militärbündnis, als die einzige, oder gar notwendige, Alternative zur „Friedenssicherung“ unhinterfragt bleibt, leistet eher einem anachronistischen Lagerdenken des kalten Krieges Vorschub, als zu einer kritischen Auseinandersetzung beizutragen.

Der jüngste militärische Konflikt in der Ukraine zeigt einmal mehr die Notwendigkeit einer differenzierten Auseinandersetzung. Weder die Zunahme militärischer Präsenz in Osteuropa, noch die Absage des von Russland geforderten Rüstungsabkommens auf Augenhöhe kann ignoriert werden. Genauso wenig kann daraus ein Gegennarrativ legitimiert werden, dass die russische Aggression rechtfertigt oder relativiert. Allzu einfach werden in der aktuellen Debatte Alternativen skizziert, die sich auf scheinbare Eindeutigkeit festlegen und innernationale Kämpfe mit nationalistischen Souveränitätsnarrativen überschreiben.

Dabei verweist die Geschichte der NATO selbst auf eine imperialistisch-militaristische Bündnispolitik. Diese betrifft nicht nur die Frage der NATO-Osterweiterung, die keineswegs so einfach vom Tisch zu wischen ist, wie derzeit behauptet wird. Denn die Zusage, auf eine solche Expansion des Einflussgebietes der NATO-Mitgliedsstaaten zu verzichten, lag 1990 vor und hätte an sich eingehalten werden müssen. Doch bereits 1993 wurden diese Zusagen von westlichen Politikern relativiert, gar zurückgezogen. 1997 kam die NATO-Russland Grundakte (die auch von Russland unterschrieben wurde) und 1999 der NATO-Angriffskrieg in Jugoslawien/Kosovo. Spätestens hier wurden die ideologischen Grenzen deutlich, die NATO bricht selbst Völkerrecht. Doch auch über die Einflussnahme in Osteuropa hinaus hat sich die NATO seit ihrem Bestehen keineswegs als demokratisches oder gar demokratisierendes Bündnis beweisen können. Am berüchtigtsten ist wohl der Einmarsch im Irak, wo die USA die NATO gleich zweifach zur Unterstützung eigener geopolitischer Interessen einsetzen konnte. Doch auch Afghanistan, Libyen, Mazedonien, Kuba und Teile Lateinamerikas oder Afrikas durften erfahren, wie eine „humanitäre Intervention“ der NATO aussehen kann.

Zwar ist auch klar, dass es nicht darum gehen kann, Frieden um jeden Preis und durch Krieg zu erlangen. Dass antifaschistische Partisan*innen Kriege auch mit eigener Waffengewalt beenden konnten, zeigt, dass moralisierende Argumente zu kurz greifen, wenn sie Pazifismus verabsolutieren. Jedoch wird oftmals unterschlagen, dass eine von der NATO geforderte nationale Aufrüstung sich lediglich um die Verteidigung nationaler Ressourceninteressen schert und auch ein ukrainisches Proletariat von einer EU-Integration vermutlich wenig Sicherheit vor Ausbeutung, Rassismus und Repression zu erwarten hat. Andererseits bedeutet die Aufrüstung für autokratisch regierte Länder auch mehr Repressionen und Gewalt nach innen, wie die Türkei beweist, die seit Jahrzehnten militärisch gegen die kurdische Freiheitsbewegung vorgeht und Rojava bombardiert. Und auch die 100 Milliarden für das deutsche Militär lassen angesichts der Schlagzeilen über rechte Netzwerke in militärischen Einrichtungen eher vermuten, dass es in Zukunft mehr kampferfahrene Rechtsradikale geben wird, als dass sich hochstilisierte Gegnerschaften plötzlich auflösen.

Obgleich sie bis vor kurzem noch als hirntot bezeichnet wurde, die NATO lebt und ihre Berechtigung wird gerade kaum angezweifelt. Wir widmen uns in diesem Schwerpunkt der NATO und ihren Narrativen damals und heute, um zu fragen, wie eine gigantische Kriegsmaschinerie als Friedensbündnis gewertet werden kann. Welche Legitimation erfährt die NATO national und international? Welche geopolitischen Interessen werden mit militärischen Mitteln in diesem Bündnis ausgetragen? Welche Freund-Feind-Unterscheidungen werden (re-)aktiviert? Welches „demokratische“ Selbstverständnis kommt darin zum Ausdruck? Wie kann eine linke Antwort auf das Wettrüsten lauten?

Für die Juli 2022-Ausgabe von kritisch-lesen.de suchen wir Menschen, die Bücher, Broschüren, Sammelbände und Literatur zum Thema für Menschen jeden Alters besprechen möchten. Es sind sowohl Rezensionen aktueller und älterer Publikationen willkommen als auch Hinweise für interessante Publikationen, die in unserer Liste fehlen! Einsendeschluss für eure Vorschläge zum Schwerpunkt ist der 15. April 2022.

Zudem suchen wir jederzeit Rezensent*innen für aktuelle Neuerscheinungen in anderen Themengebieten. Auch Romane und Kinderbücher sind immer gern gesehen! Insbesondere möchten wir FLINTAs ermutigen, uns Rezensionen anzubieten.

Wenn ihr Interesse oder weitere Ideen habt, dann schickt eure Vorschläge bitte mit einer kurzen Begründung eures Interesses und ein paar Worten zu euch selbst an redaktion@kritisch-lesen.de oder an eines der Redaktionsmitglieder.

Wir entscheiden nach Eingang der Vorschläge, welche Rezensionen wir gerne in der Ausgabe hätten und melden uns dann bei euch. Der Einsendeschluss der fertigen Rezensionen ist der 09. Mai 2022.

Literaturvorschläge

Peter Brinkmann: Die NATO-Expansion – Deutsche Einheit und Ost-Erweiterung, Berlin: edition ost 2016.

Uli Cremer: Neue Nato – die ersten Kriege, Hamburg: VSA Verlag 2009.

Daniele Ganser: Illegale Kriege – Wie die NATO-Länder die UNO sabotieren, Zürich: Orell Füssli 2016.

Philipp Gassert, Tim Geiger, Hermann Wentker (Hg.): Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung – der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive, München: Oldenbourg Verlag 2011.

Stefan Gruber: Die Lehre vom gerechten Krieg – Eine Einführung am Beispiel der NATO-Intervention im Kosovo, Marburg: Tectum 2008.

Claudia Haydt/Jürgen Wagner: Die Militarisierung der EU – Der (un)aufhaltsame Weg Europas zur militärischen Großmacht, Berlin: edition berolina 2018.

Claudia Kemper: Gespannte Verhältnisse: Frieden und Protest in Europa während der 1970er und 1980er Jahre, Essen: Klartext 2017.

Jörg Kronauer: Ukraine über alles! Ein Expansionsprojekt des Westens, Hamburg: KVV konkret, 2014.

Jörg Kronauer: Meinst du, die Russen wollen Krieg? Russland, der Westen und der zweite Kalte Krieg, Köln: PapyRossa 2018.

Matthias Küntzel: Der Weg in den Krieg – Deutschland, die Nato und das Kosovo, Berlin: Elefanten Press 2020.

Norman Paech, Karsten Nowrot (Hg.): Krieg und Frieden im Völkerrecht, Köln: PapyRossa 2019.

Elisa Satjukow: Die andere Seite der Intervention – Eine serbische Erfahrungsgeschichte der NATO-Bombardierung 1999, Bielefeld: transcript 2020.

Theo Sommer: Diese Nato hat ausgedient – Das Bündnis muss europäischer werden, Hamburg:‎ edition Körber-Stiftung 2012.

Peter Strutynski (Hg.): Spiel mit dem Feuer – Ukraine, Russland und der Westen, Köln: PapyRossa 2014.

Mar Swatek-Evenstein: Geschichte der „Humanitären Intervention“, Baden-Baden: Nomos 2008.

Lennart Taschenbrecker: Die völkerrechtliche Bewertung der NATO-Einsätze seit dem Ende der Sowjetunion aus dem Blickwinkel des NATO-Vertrages, Berlin: Duncker & Humblot 2020.

Horst Teltschik: Russisches Roulette – Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden, München: C.H. Beck 2019.

Ronald Thoden, Sabine Schiffer (Hg.): Ukraine im Visier – Russlands Nachbar als Zielscheibe geostrategischer Interessen, Berlin: Selbrund 2014.

Jürgen Wagner: NATO – Aufmarsch gegen Russland, Berlin: BEBUG 2017.