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Wir suchen wieder Rezensent*innen!
Ausgabe #58: Knast und Justiz

NSU-Verfahren, Reichsbürger, neofaschistische Netzwerke oder antifeministische Drohungen zeigen, dass Strafverfolgung und Justiz nicht allen Menschen gleichermaßen Schutz bieten. Gerade linke Strukturen und Menschen, die für die Rechte Marginalisierter eintreten, erfahren staatliche Repressionen, während für rechte Strukturen die Spielräume groß sind. Wenn Schwarze Menschen in Zellen verbrennen und es keiner gewesen sein soll, wenn von Polizeicomputern Morddrohungen gegen linke und migrantische Frauen* verschickt werden, wenn auf Demonstrationen Polizisten bekannte Rechtsradikale freundschaftlich umarmen: Wie wirksam, wie wertvoll ist dann die Institution „Strafe“ überhaupt – mitsamt ihren ausführenden Organen? Sehen wir ein Scheitern der staatlichen Institutionen, oder verweisen diese Vorfälle auf die eigentliche Funktion des strafenden Staates? Hat das Gefängnis einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen oder ist es eine Disziplinarinstitution zur Sicherung der bürgerlich-liberalen Normativität und des staatlichen Gewaltmonopols?

Viele Menschen werden Gewalt und Mord zu den häufigsten Inhaftierungsgründen zählen. Tatsächlich aber sitzen Menschen hauptsächlich wegen „Armutsdelikten“ ein; etwa, weil sie ein Bußgeld nicht zahlen konnten, geklaut, oder gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen haben. Im Gefängnis selbst werden Inhaftierte durch Überwachung, Disziplinierung und ritualisierte Eingriffe in die Privatsphäre ihrer Menschenwürde weitestgehend entledigt. Dies trifft verstärkt bei Trans- und queeren Menschen zu, die zusätzlich unter den binären Gefängnisstrukturen leiden und oft keine psychologische oder anderweitig notwendige Unterstützung erhalten. Währenddessen werden Steuerhinterziehung, unternehmerische Ausbeutung von Arbeiter*innen und Umweltverbrechen – wenn überhaupt – mit einem Klapps auf die Finger und Bußgeld geahndet. Wohlverdienende sitzen auch deshalb seltener hinter Gittern oder kommen schneller hinaus. Wer wird kriminalisiert und wer nicht? Oder andersherum gedacht: Welche Opfer von welchen Verbrechen werden in ihrem Leid ernst genommen?

Aus den Erfahrungen des „War on Drugs“ in den USA der 1970er Jahre entstanden die Analysen von Angela Davis und anderen. Sie zeigen, dass der strafende Staat auf die Kriminalisierung bestimmter (in diesem Fall Schwarzer) Lebensweisen ausgelegt ist, um eben diese Individuen zu billigen Arbeitskräften zu machen. Antonio Gramsci und Rosa Luxemburg beschrieben ihre politisch-motivierte Haft als krasseste Maßnahme einer auch sonst strafenden und disziplinierenden gesamtgesellschaftlichen Ordnung. Noch heute erleiden Frauen* und Queers, die sexualisierte Gewalt anklagen wollen, retraumatisierende Befragungen oder verhöhnende Täter-Opfer-Umkehr. Seit 2015 dürfen „Gefährder“ ohne Tatbestand festgenommen werden. Seit G20 zählen neben muslimisch markierten Menschen dazu auch Linke.

Die Vorstellung eines strafenden Staates steht im Gegensatz zu Ansätzen der Traumabearbeitung, der Resozialisation und einer gesellschaftlichen Transformation. Autonome und kollektive Gegenentwürfe, wie reparative und transformative Gerechtigkeit versuchen, dem etwas entgegenzusetzen. Sie zielen auf Resozialisation, Selbstermächtigung und kollektive Verantwortung ab, doch sind oftmals unterfinanziert oder werden als utopisch abgetan. Welche dieser Vorschläge haben dennoch das Potential, zu einer befreiten, solidarischen Gesellschaft beizutragen? Was machen wir ohne Gefängnis mit den Tätern von Christchurch, Hanau, Halle? Welche Aussichten haben Inhaftierte, ihre Würde beizubehalten oder schlicht nicht wahnsinnig zu werden? Und welche Möglichkeiten haben Betroffene, Erlebtes aufzuarbeiten und wirklich zu einer Reparation zu gelangen?

Für die Januar 2021-Ausgabe von kritisch-lesen.de suchen wir Menschen, die Bücher, Broschüren, Sammelbände und Literatur zum Thema für Menschen jeden Alters besprechen möchten. Es sind sowohl Rezensionen aktueller und älterer Publikationen willkommen als auch Hinweise für interessante Publikationen, die in unserer Liste fehlen! Zudem suchen wir Rezensent*innen für aktuelle Neuerscheinungen in anderen Themengebieten.

Wenn ihr Interesse oder weitere Ideen habt, dann schickt eure Vorschläge bitte mit einer kurzen Begründung eures Interesses und ein paar Worten zu euch selbst bis zum 30.09.2020 an redaktion@kritisch-lesen.de oder an eines der Redaktionsmitglieder.

Wir entscheiden nach Eingang der Vorschläge, welche Rezensionen wir gerne in der Ausgabe hätten und melden uns dann bei euch. Der Einsendeschluss der fertigen Rezensionen ist der 16.11.2020.

Literaturvorschläge

Lia Becker, Mario Candeias, Janek Niggemann, Anne Steckner (Hrsg.): Gramsci lesen – Einstiege in die Gefängnishefte. Hamburg: Argument 2019.

Didier Fassin: Der Wille zum Strafen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2018.

Michel Foucault: Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976.

Thomas Galli: Weggesperrt – Warum Gefängnisse niemandem nützen. Hamburg: Edition Körber 2020.

Dirk Glebe: Handbuch Knast und Strafvollzug – (Über-) Leben im deutschen Gefängnis. Norderstedt: Books On Demand 2011.

Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene: Begegnungen in der Welt des Widersinns. Zell/Mosel: Rhein-Mosel 2018.

Klaus Jünschke, Jörg Hauenstein, Christiane Ensslin (Hrsg.): Pop Shop – Gespräche mit Jugendlichen in Haft. Hamburg: Konkret Literatur 2008.

Jörg Kinzig: Noch im Namen des Volkes? Über Verbrechen und Strafe. Zürich: Orell Füssli 2020.

Rosa Luxemburg: Briefe aus dem Gefängnis. Berlin: Holzinger 2016.

Rehzi Malzahn (Hrsg.): Gefängnis und Strafe – Theorie, Kritik, Alternativen – Eine Einführung. Stuttgart: Schmetterling 2018.

Rehzi Malzahn (Hrsg.): dabei geblieben – Aktivist*innen erzählen vom Älterwerden und Weiterkämpfen. Münster: Unrast 2015.

Helmut Ortner: Gefängnis – Eine Einführung in seine Innenwelt – Geschichte, Alltag, Alternativen. Weinheim: Beltz 1988.

Annelie Ramsbrock: Geschlossene Gesellschaft – Das Gefängnis als Sozialversuch – Eine bundesdeutsche Geschichte. Frankfurt am Main: Fischer 2020.

Andrea Seelich: Handbuch Strafvollzugsarchitektur – Parameter zeitgemäßer Gefängnisplanung. Wien/New York: Springer 2009.

Loïc Wacquant: Bestrafen der Armen – Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit. Leverkusen: Budrich 2013.

Jackie Wang: Carceral Capitalism. London: MIT 2018.