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Klassenkampf rebooten

Auf dem Buchcover ist eine abstrakte 4-zackige Figur in weiß, grau und gelb 
zu sehen, die mit etwas Phantasie wie eine auf die Seite gestellte Papier-Krone aussieht.
Buchautor_innen
Nick Dyer-Witheford
Buchtitel
Cyber-Proletariat
Buchuntertitel
Global Labour in the Digital Vortex
Nick Dyer-Withford zeigt auf, wie der digitale Kapitalismus die weltweite Klassenzusammensetzung prägt.

Seit Anfang des neuen Jahrtausends ist die Rede vom digitalen Kapitalismus. Auf linken Veranstaltungen, in Feuilletons und auf hip-getrimmten Panels irgendwelcher Telekommunikationsfirmen wird über ihn diskutiert. Digitaler Kapitalismus, das klingt catchy und ruft Bilder hervor: Man denkt an die Konzernzentralen von Google und Facebook im Silicon Valley. Notebooks, Smartphone und andere hippe Technik-Gadgets fallen genauso so mühelos ein wie selbstfahrende Autos, Uber-Apps und Airbnb-Wohnungsangebote. Wir hören, dass die Arbeit verschwindet, sie wird prekär oder immateriell, und die Roboter werden uns ersetzen.

Auch in den deutschen Feuilletons wird das Thema durchaus kritisch diskutiert. Die Autor_innen stellen sich Fragen wie: Wird mein Leben noch prekärer, wenn die Sharing Economy das Private jetzt auch noch zum Beruflichen macht? Kann ich mir in meiner Nachbarschaft bald keine Wohnung mehr leisten, wenn noch mehr Ferienwohnungen über Airbnb vermietet werden? Was macht Facebook mit meinen Daten? Haben wir dank der technischen Tools eigentlich nie Feierabend, und wann stoppt Twitter die Trolle? Die Fragen spiegeln meistens jedoch nur das Milieu derjenigen wieder, die da diskutieren, und reichen sehr selten darüber hinaus.

Vielleicht ist Digitaler Kapitalismus ja auch ein irreführender Begriff, weil er suggeriert, es sei ein anderer Kapitalismus, einer, der nur irgendwie mit Apps, Smartphones und technischen Tools zu tun hätte, einer, der cooler, neuer und hipper ist. Die Bücher linker Autor_innen, die zum Thema erscheinen, tragen zur Verwirrung bei, weil sie immer nur Phänomene in den Blick nehmen. Noch schwieriger wird es, wenn Krisen und Kämpfe auf den ersten Blick gar nichts damit zu tun haben, wenn es zum Beispiel um das Elend der Geflüchteten weltweit oder die Gentrifizierung im eigenen Stadtbezirk geht.

Politische Kämpfe geben schon lange keine Antwort mehr, und nicht nur das: Oft findet mehr ein Gegeneinander als ein Miteinander statt. Statt Kollektivierung reibt man sich untereinander und streitet erbittert darüber, welcher Kampf mehr Berechtigung hat. Wer in der linken Geschichte zurückblickt, weiß, wieso das so ist: Als der Industriekapitalismus noch ein klassenkämpferisches Subjekt hatte, den meist weißen, meist männlichen, meist heterosexuellen Arbeiter, waren alle anderen von diesen Kämpfen weitgehend ausgeschlossen. Viele Linke wollen zwar zu Recht diese Fehler nicht wiederholen und versuchen in ihren Kämpfen nicht rassistisch, homophob oder sexistisch zu sein. Doch dabei bleibt es dann auch oft. Vereinzelt gibt es natürlich aber auch heute Proteste, die Hoffnung machen, wie gerade in Frankreich die Streiks und Versammlungen gegen das neue Arbeitsgesetz, doch auch sie bleiben letztlich ohne Anschluss, vereinzelt und folgenlos.

Die Geschichte der kybernetischen Revolutionen

Doch was sollen wir tun? Einer, der versucht darauf eine Antwort zu geben, ist Nick Dyer-Withford in seinem Buch „Cyber-Proletariat“. Dyer-Withford nennt seine Schrift selbst an einer Stelle eine „whirlwind tour of the cybernetic vortex“ (S. 129), eine wirbelsturmartige Reise durch den kybernetischen Vortex, und beschreibt damit präzise das Gefühl, das einem beim Lesen oft überkommt. Es ist tatsächlich sehr schwer, all das, was Dyer-Withford an Zusammenhängen aufmacht, in eine Besprechung zu packen, solch eine Tour de Force leistet er in seinem Buch. Auf knapp 205 Seiten versucht er die Versäumnisse anderer linker Autor_innen und Konzepte wettzumachen, eine gültige und allumfassende Analyse aktueller kapitalistischer Verhältnisse zu leisten, die Geschichte der kybernetischen Revolution in sämtlichen Facetten zu umreißen und auch noch vergangene, aktuelle und zukünftige Kämpfe dazu in Beziehung zusetzen. Wer also eine Einführung in diese Themen oder einen Überblick zu ihnen sucht, ist hier gut aufgehoben.

„Cyber-Proletariat“ beeindruckt aber nicht nur aufgrund der angestrebten Vollständigkeit, sondern wegen der Zusammenhänge, die Dyer-Withford herstellt. Die sogenannte kybernetische Revolution begann zur Zeit des Kalten Krieges im militärisch-industriellen Komplex der Vereinigten Staaten. Die Automatisierung, die gerade wieder heiß debattiert wird – zum Beispiel von deutschen Unternehmen unter dem Stichwort Industrie 4.0 oder von Linken, die sich davon etwas versprechen, unter dem Stichwort „FullyAutomatedLuxuryCommunism“ – hat damals schon angefangen. Der industrielle Kapitalismus begann damals, menschliche Arbeitskräfte zu ersetzen, in Büros, in Fabriken, eigentlich überall dort, wo es Forschung und Technik zuließen. Zugleich fand in den westlichen Staaten ein Prozess statt, der unter Outsourcing bekannt wurde: In den Industrieländern wurden Arbeitsplätze an Externe vergeben, die man nicht festanstellen musste, während ein großer Teil der Produktion in sogenannte Billig-Lohn-Länder verlegt wurde.

Der digitale Kapitalismus betrifft alle

Das ist der Gedanke, der „Cyber-Proletariat“ im Kern zusammenhält: der Digitale Kapitalismus ist nicht bloß eine Frage von Gadgets und Apps, vom Neuen Arbeiten und Start-Ups, er hat längst den Kapitalismus, so wie wir ihn bisher kannten, komplett transformiert und betrifft das Leben von allen. Algorithmen regeln den Finanzmarkt, der durch seine Krisenanfälligkeit zuletzt 2008 Länder und Menschen in den Abgrund gerissen hat. Und er betrifft längst auch die (Arbeits-)Leben derer, die sich die Frage nach Smartphone-Besitz, nach coolen Apps und noch cooleren Gadgets gar nicht erst stellen. Dyer-Withforts These: Der Kapitalismus schafft ein neues, weltweites Cyber-Proletariat,beziehungsweise: Er hat es schon geschaffen, und die Proletarisierung schreitet weltweit unaufhörlich voran.

Wer ist dieses globale Proletariat? Im Grunde wir alle, und das ist auch die Stärke des Begriffs. Nicht nur wird die Arbeit immer mehr durch Maschinen ersetzt, auch ehemals noch qualifizierte Arbeit wird schnell zu unqualifizierter und damit auch schlecht bezahlter abgewertet. Doch während es bei den elenden Jobs von Konzernen wie Foxconn schnell klar ist, dass sie zum Cyber-Proletariat gehören, wähnen sich gut bezahlte Programmierer_innen, Akademiker_innen und andere noch in Sicherheit.

Das Konzept des Cyber-Proletariat ermöglicht es, komplexe Zusammenhänge global zu denken und vor allem die Unterdrückungen, die der Kapitalismus produziert, als Klassenfragen zu denken. Vieles von dem, was in „Cyber-Proletariat“ endlich wieder als Klassenfrage diskutiert wird, debattiert die Linke heute als vereinzelte Probleme des Systems; Rassismus, Homophobie und Sexismus werden dann nur noch als Diskriminierungen, Ausbeutung als Chancenungleichheit wahrgenommen. Dyer-Withford liefert nicht nur eine sehr aktuelle Beschreibung des globalen Klassenwiderspruchs, der durch die fortschreitenden Digitalisierungen noch verschärft wird, sondern bietet auch an, sich mit den Kämpfen anderer, egal ob der Nachbarin nebenan oder dem technologischen Lumpenproletariat in Indonesien, das unsere Smartphones zusammenschraubt, zu verbinden, ohne sich mit deren Lebenswirklichkeit identifizieren zu müssen. Nichts anderes ist Klassensolidarität.

Beeindruckend ist „Cyber-Proletariat“ immer dort, wo es Dyer-Withford gelingt, die Zusammenhänge und Widersprüche deutlich herauszuarbeiten. Gleich zu Beginn des Buchs stellt er die Zusammenhänge, um die es ihm geht, her: Er stellt VITAL vor, ein Künstliches-Intelligenz-Programm, das über Algorithmen Investment-Entscheidungen vorhersagen und treffen kann und neuerdings ein vollständiges Mitglied im Vorstand der in Hong Kong beheimateten Venture-Capital-Firma „Deep Knowledge Ventures“ ist. Am selben Tag, nämlich am 13. Mai 2014, als die Berufung eines Algorithmus in den Vorstand bekannt gegeben wurde, ereignete sich in der Türkei eine Explosion, die in der deutschen Presse als „Grubenunglück“ beschrieben wurde. Bei einem Streik in der Kohlengrube im türkischen Soma kamen 301 Arbeiter ums Leben. Ganz ähnlich wie aktuell in Frankreich hatten sie im Anschluss an die Gezi-Proteste in Istanbul gegen die unwürdigen Arbeitsbedingungen gestreikt. Die bereits im Jahr 2007 privatisierte Mine liefert unter anderem jene Rohstoffe, die man braucht, um Elektrizität herzustellen. Ohne Elektrizität kein digitaler Kapitalismus, ohne digitalen Kapitalismus keine fortschreitende Privatisierung und so weiter. Es geht hier natürlich nicht darum, ein geschlossenes, esoterisches System zu entlarven, sondern darum, die verschiedenen Ereignisse in Zusammenhang zu bringen.

Das Cyber-Proletariat im Silicon Valley

Besonders deutlich wird das an einem Ort wie dem Silicon Valley: Auf der einen Seite stehen die bunten Konzernzentralen, die ihren meist weißen und männlichen Angestellten eine Arbeit versprechen, die Spaß macht, die Rutschen, Bällebäder und Snackräume einerseits, gute Bezahlung andererseits bieten. Aber selbst dort gibt es Schattenseiten: Fast jeder Programmierer ist ersetzbar, mit der Folge, dass der Konkurrenzdruck hoch und Arbeitstage von 12 bis 14 Stunden keine Seltenheit sind. Die hohen Einkünfte gehen für hohe Mieten und Grundstückpreise sowie die bitternötige Entspannung drauf. Ganz unten im sozialen Gefüge des Silicon Valley stehen migrantische Frauen, für die drei Jobs gleichzeitig eher Regel als Ausnahme sind. Sie kümmern sich um ihre Familien, haben ein bis zwei schlechtbezahlte Service-Jobs im Silicon Valley, für die sie oft lange Busreisen in Kauf nehmen müssen, weil in den Vierteln, in denen viele von ihnen vormals gelebt haben, jetzt die gutbezahlten Programmierer leben. Viele schrauben außerdem in Heimarbeit die Platinen für die Hardware des Silicon Valley zusammen, eine Arbeit, die aufgrund der giftigen Materialien krank macht. An dieser Stelle werden aber nicht nur die Zusammenhänge sehr deutlich, sondern auch, wie immanent diesem System Rassismus und Sexismus sind, und warum es so wichtig ist, sie in Relation zur Klassenfrage zu behandeln. Und hier wird auch klar, dass sich kein Problem dadurch erledigen wird, dass wir an den Türen dieser Konzerne rappeln und lediglich fordern, mitmachen zu dürfen.

Das Konzept des Cyber-Proletariats selbst ist aber auch nicht ohne Probleme: Dyer-Withford scheitert im Grunde bei seinem Versuch, ein allumfassendes Konzept zu schaffen, das beides ist, Analysekategorie und kollektivierender Kampfbegriff. Aber letztlich bleibt er eben genau das: wieder ein weiterer Begriff, der in die Debatte eingeführt werden muss, der sich erst durchsetzen müsste, der in Konkurrenz zum Prekariat, zur Multitude, zu den 99 Prozent tritt. Und er schafft es auch nicht, neue Formen der Arbeit in den Blick zu nehmen. Er reißt zwar an, dass das, was wir beispielsweise jeden Tag für Facebook machen, dass jeder Klick im Grunde unbezahlte Arbeit ist. Aber er beschränkt sich darauf, zu beschreiben, wie prekär und ersetzbar sie ist, und vergisst, dass sich hierüber auch Kollektivierungen ergeben könnten sowie ein Anknüpfen an die deutlich geschichtsträchtigeren Begriffe der Arbeit, der Arbeiter_innen und des Arbeitskampfs.

Doch Dyer-Withford hört hier noch lange nicht auf: Er diskutiert die Proteste, die wir seit der letzten Finanzkrise 2008 gesehen haben, stellt diese ebenfalls in Zusammenhang zur fortschreitenden Digitalisierung und zeigt auf, dass wir als Linke zwar technisch versiert sein müssen, dass von Twitter- und Facebook-Revolutionen aber keine Rede sein kann. Wie bereits in seinem „Cybermarx“ (1999) diskutiert er all das im Hinblick auf die Debatten und Kämpfe der Autonomen Marxisten und Post-Operaisten, zeigt aber auch deren Limitierungen auf. Er hat mit dem Wirbelwind durch den digitalen Vortex wirklich nicht zu wenig versprochen. Und zum Schluss gibt er dann noch einen pathetischen Ausblick auf kommende Kämpfe, bei denen er unter anderem durchaus sinnvolle Argumente für einen bewaffneten Kampf liefert. Und selbst wenn man dem nicht folgen mag, geht man am Ende aus „Cyber-Proletariat“ wie aus einem richtig guten Blockbuster-Film raus: leicht durchgebügelt und überwältigt, voller neuer Erkenntnisse und bereit für die Tat. Und alleine schon deswegen ist das Buch natürlich unbedingt empfehlenswert.

Nick Dyer-Witheford 2015:
Cyber-Proletariat. Global Labour in the Digital Vortex.
Pluto Press, London.
ISBN: 9780745334035.
256 Seiten.
Zitathinweis: Nina Scholz: Klassenkampf rebooten. Erschienen in: Die da unten. 40/ 2016, Kapitalismus digital. 48/ 2018. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1339. Abgerufen am: 29. 03. 2024 16:07.

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Nick Dyer-Witheford 2015:
Cyber-Proletariat. Global Labour in the Digital Vortex.
Pluto Press, London.
ISBN: 9780745334035.
256 Seiten.